Auf dem Glatteis des neuen Zeitalters - Die Krise, das Proletariat und die Linke

Cover "Krise, welche Krise?"

1. Zur Theorie des gegenwärtigen Zeitalters

Eine Gegenwart muß immer von der Vergangenheit abgetrennt werden. Die vergangene Epoche war die Epoche von Ford und Keynes. Eine Epoche, in der die Beziehung zwischen Massenproduktion, Massenarbeit und Einkommensgarantie mit dem Anspruch auf Vollbeschäftigung gekoppelt war. Eine Epoche, in der es einen konstanten Ausgleich der inneren Instabilität der Kapitalakkumulation durch staatliche Nachfragemobilisierung gegeben hat. Diese Epoche wurde Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre in die Krise gestürzt. Einmal von unten, durch die Sozialrevolte, die damals internationale Dimensionen angenommen hatte. Und danach, 1971-73 - ausgehend von den USA und den internationalen Wirtschafts- und Finanzeliten -, wurde diese Krise von oben vertieft. Die ökonomischen Folgen sind bekannt. Wichtig scheint mir der Hinweis, daß diese Krise - wie meiner Meinung nach alle Krisen - gemacht wurde, und zwar von unten, und danach - im Gegenzug - von oben.

Seit den siebziger Jahren konturiert sich nun allmählich das Ufer des gegenwärtigen Zeitalters. Es ist einmal geprägt durch die Internationalisierung des Krisenangriffs durch das Finanzkapital, das über neue Geld- und Bondmärkte die Emanzipation der Zinssätze von den fallenden Profitraten erzwungen hat. Und es ist zweitens charakterisiert durch eine »monetaristische Konterrevolution« (Milton Friedman), die zuerst in den Volkswirtschaften der damaligen Schwellenländer begann, dann in die Metropolen USA und England übertragen wurde und zuletzt im Implosionsprozeß des osteuropäischen Staatskapitalismus geendet hat. Die Hauptcharakteristika dieser Konterrevolution sind bekannt: Budgetrestriktionen, Sozialabbau, Kreditsperren gegen überakkumulierte Schlüsselsektoren, Liberalisierung des Außenhandels, Kapitalexporte in Niedriglohngebiete, Privatisierung des staatlichen Kapitalbudgets (Transportsektor, Telekommunikation usw.) und nicht zuletzt Zerschlagung der tarifpolitisch regulierten Arbeitsmärkte, das heißt der integrierten Arbeiterbewegung zusammen mit und nach den aufbegehrenden Fraktionen der neuen Linken.

Die Folgen sind seit den achtziger Jahren absehbar. Die sozialstaatliche Regulation, der Klassenkompromiß, wurde von der kapitalistischen Investitionspolitik entkoppelt. Kostenfaktoren der Einzelunternehmen werden seither immer mehr auf gesamtwirtschaftliche Strukturen abgewälzt. Es kam in der Folge zur Umwandlung der Sozialstaaten. Nach dem Verlust ihrer Währungs-, Zins- und zunehmend auch ihrer Steuersouveränität erlebten wir ihre Umwandlung in konkurrierende Staubecken totalisierter Kapitalmärkte. Der Transportsektor und damit - in keynesscher Terminologie - das gesamte Kapitalbudget des Staatssektors wurde Teil der inneren Kapitalakkumulation. Das Ergebnis war weltweit die Herausbildung einer neuen industriellen Reservearmee, ein Trend zur Massenverelendung bei allgemeiner Polarisierung der Gesellschaften in Arm und Reich auf der Verteilungsebene. Wir haben also die Wiederkehr von Proletarität im Rahmen eines normalisierten, quasi vorkeynesianischen Krisen- und Akkumulationszyklus zu konstatieren. Trotz aller Phasenverschiebung handelt es sich dabei um eine Wiederkehr im Weltmaßstab. Nach der Niederlage der Sozialrevolten und dem Untergang des Realsozialismus ist dieser vorkeynesianische und zugleich neue Kapitalismus zur Tagesordnung übergegangen.

Wie sieht dieses neue Zeitalter aus der Sicht von unten aus? Aus der Sicht von unten dominiert die endgültige Zerstörung der agrarischen Subsistenzproduktion [Produktion zum Lebensunterhalt] in der Peripherie und Semiperipherie des Kapitalismus. Die Expropriierten werden zu Millionen in latente Bestandteile der industriellen Reserverarmee umgewandelt. Nur ein Bruchteil von ihnen wird im internationalen Agrobusiness absorbiert. Der größere Teil ist zur Abwanderung in städtische Agglomerationen gezwungen worden. Wir haben seit Mitte der Siebziger und vor allem in den achtziger Jahren in diesen Agglomerationen die Entstehung neuer Schwitzbudensektoren erlebt, die höflich als informeller Sektor bezeichnet werden. Der zunehmende Stadt-Land-Gegensatz in der Pauperisierung [Verarmung] wurde teilweise gegenläufig aufgehoben durch zirkulierende Migrationsbewegungen. Sie stellten gleichzeitig eine Verbindung zum schrumpfenden formellen Sektor der Krisenbranchen her. Dieser allgemeine Mobilisierungsprozeß des neuen Proletariats wurde in den Metropolen ergänzt durch die Einschränkung der Sozialbudgets zur Absicherung proletarischer Existenzrisiken (Alter, Krankheit, Invalidität und vor allem Arbeitslosigkeit). Die mehr und mehr dem Hire-and-Fire-Prinzip ausgelieferte aktive Arbeiterarmee wird parzelliert, segmentiert, verkleinert und immer häufiger flexibel ausgewechselt. Hinzu kommen besondere Ausgrenzungsformen, beispielsweise gegenüber Ausländern, denen in den Metropolen zunehmend eine Sündenbockfunktion zugewiesen wird. Damit soll von den eigenen Ängsten und Erfahrungen im permanenten Entsolidarisierungsprozeß abgelenkt werden.

Die Quantitäten dieser neuen, angebotsorientierten Arbeitsmarktstrukturen sind bekannt. 150 Millionen Menschen befinden sich heute auf Wanderschaft innerhalb und außerhalb ihrer Länder und Kontinente. 120 Millionen sind offiziell arbeitslos, davon 38 Millionen in den OECD-Ländern. 500 Millionen - etwa 100 Millionen Familien - vegetieren als enteignete kleinstbäuerliche und Squatterfamilien im neuen pauperistischen Sektor als Bondlabour [Leiharbeit], als selbständige Arbeiter, als Saisonarbeiter und Jobber. In den Metropolen erleben wir den Übergang von Welfare zu Workfare [Welfare: Wohlfahrt]. Gleichzeitig werden bis zu 30 Prozent der Arbeitsverhältnisse - in einigen Ländern sind es noch mehr - entgarantiert. Es entstehen Niedriglohnsektoren. Prekäre Arbeitsverhältnisse setzen sich durch. Weltweit sehen sich die Proletarierinnen und Proletarier mit einer neuen Qualität des Verwertungsanspruchs konfrontiert, mit - überspitzt formuliert - einer Vollbeschäftigungsstrategie auf pauperistischer Basis. Denn weltweit geht nicht die Arbeit aus, sondern die Einkommen sinken. In den Beziehungen zwischen deregulierten Arbeitsmärkten und Mehrwertketten kann deshalb nicht mehr zwischen Ausbeutung für normale und parallele Kapitalakkumulation unterschieden werden, wie dies Rosa Luxemburg noch für die Verhältnisse zu Beginn des Jahrhunderts wahrnahm. In gewisser Weise wird heute die Eroberung der nichtkapitalistischen Sphären und ihre Umwandlung in Bestandteile des Akkumulations- und Krisenzyklus abgeschlossen, und zwar als Massenerfahrung.

Mir scheint es wichtig, diese Fakten, die auf den ersten Blick sehr banal wirken, doch einmal zu resümieren, weil ich glaube, daß wir die internationalen Dimensionen der heutigen Gesellschaftsprozesse ins Auge fassen müssen.

Wie sieht das neue Zeitalter aus der Sicht von oben aus? Es ist charakterisiert durch eine wiederhergestellte internationale Despotie des Kasino-Finanzkapitals. Die Einkünfte aus Geldvermögen überflügeln weltweit die produktiven Unternehmergewinne. Die Rentierschichten haben sich in den letzten zwei Jahren weltweit verdoppelt bis verdreifacht. Diese Rentierschichten mobilisieren die Bodenmärkte und die entnationalisierten Transportsphären - vor allem Transport- und Geldmärkte sowie Dienstleistungen. Sie plündern als Rentiers der Staatsverschuldung die Staatshaushalte. Spekulation, antisozialer Egoismus und allgemeine Bereicherungssucht werden von ihnen als Kernelemente einer neuen kulturellen Hegemonie beansprucht.

Das zweite wesentliche Charakteristikum sehe ich im Prozeß der Unternehmensrationalisierung: Vom Postfordismus und Toyotismus zum Akkumulationstyp à la Hollywood. Unter dem Hochzinsdiktat und der Liquiditätspräferenz »lieber sparen statt investieren« wurden vielfältige Initiativen zur Wiederherstellung des produktiven Unternehmergewinns gestartet. Zu Beginn der achtziger Jahre wurde eine Konzeption der flexiblen Automatisierung versucht. Das computerintegrierte Manufacturing wurde proklamiert. Es scheiterte an der Rigidität der Arbeiter. Mitte der achtziger Jahre wurde weltweit das »3. Italien« mit seinen innovativen Klein- und Mittelunternehmen und den angeschlossenen Subunternehmen und selbständigen Arbeiterinnen und Arbeitern entdeckt. »Small is beautiful«, tönte es durch die Lande, der Postfordismus assoziierte sich mit grünalternativen Denkstrukturen. Währenddessen akkumulierte ein neues System der Benettonschen Netzwerkunternehmen. Es kam zu einer Zentralisation des Kapitals ohne eine Konzentration der Produktionsstrukturen.

In der 2. Hälfte der achtziger Jahre wandten sich dagegen die internationalen Konzernkonglomerate vor allem der Autoindustrie dem sogenannten Toyotismus zu, einem japanischen Produktionsmodell, das nach der blutigen Zerschlagung der japanischen Arbeiterklasse Mitte der sechziger Jahre dort entwickelt worden war. Es wurde nur partiell übernommen. Die Einfriedungsstrukturen, beispielsweise die »company unions« und die »company worlds« [Betriebsgewerkschaften und Betriebswelten], die Beherrschung ganzer Regionen durch die Familienkonzerne (Zaibatsu) waren natürlich nicht transferierbar. Man paßte sich der Produktionsstruktur an. »Lean Production« wurde zum Schlagwort. Die Verbindung von Arbeitsprozeß und Produktkontrolle, Just-in-time (Kanban), die Ausbildung von Zulieferketten nach einem Supermarktmodell, der kontinuierlich verbesserte Produktionsprozeß, das Teamwork, die Qualitätszirkel: Diese Schlagworte waren in der 2. Hälfte der achtziger Jahre noch neu - heute haben sie sich weitgehend durchgesetzt. Das Produktionsmodell selbst hat sich aber nicht durchgesetzt, denn seine begrenzte Übernahme als »management by stress« brachte keinen Druchbruch der Profitabilität. Die Transplants [z.B in den USA aufgebaute Fabriken japanischer Autokonzerne] und die Großkonzerne, die das japanische Modell übernahmen, wurden mehr und mehr zum »concession bargaining« [gewerkschaftliches Feilschen um Zugeständnisse] gezwungen, das heißt, sie mußten die fehlende Einfriedung und Atomisierung der Arbeiterklasse durch die Drohung und Realisierung von Produktions- und Abteilungsauslagerungen im Falle von Restriktionen von seiten der Arbeiterklasse ersetzen.

Den letzten Schritt und das neueste Modell erleben wir seit Anfang der 90er Jahre von den USA aus: Das Konzept des »industrial engineering« [Analyse und Umgestaltung ganzer Unternehmen oder Teilbereiche davon]. Ein neuer Mischtyp von Benetton und Toyota wird versucht. Es entstehen Netzwerkkonglomerate, in denen sich die Beziehungen zwischen Kern- und Randbelegschaften zunehmend verwischen und traditionelle mittlere Managementhierarchien zunehmend abgebaut werden. An die Spitze dieser Konglomerate treten Manager mit despotischer Herrschaftsfunktion. Sie setzen geschäftsführende Einheiten, Generalisten ein, die Projekte in Gang bringen. Nur noch für jeweilige Aufträge werden befristet Entwicklungsspezialisten, Konstrukteure, Programmierer, Fertigungsarbeiter usw. gemietet. Selbst so traditionsreiche Konzerne wie beispielsweise Siemens haben sich in der jüngsten Zeit in solche geschäftsführenden Einheiten aufgesplittert. Das ist die Hollywoodmethode: Man produziert, wie man einen Film plant und erstellt.

Diese Produktionsweise, und das halte ich für entscheidend, nähert sich der Mobilität der Geldvermögen maximal an: Vom Supermarkt Toyotas und von den Netzwerkunternehmen Benettons zur Hollywoodpremiere unmittelbar neben dem Spielsaal des internationalen Finanzkapitals. Auf diese Weise werden mikroökonomische Kostenfaktoren optimal auf die Gesamtgesellschaft übertragen, die gleichzeitig immer mehr Instrumente zur wirtschaftspolitischen Gesamtsteuerung verliert. Die Profitraten der Einzelunternehmen steigen wieder. Aber die ausgelagerten Kostenfaktoren drohen im Prozeß des Ausgleichs der Durchschnittsprofitraten und der Mehrwertrealisierung zurückzukehren. Deshalb forcierter Sozialabbau, deshalb mehr Armut, deshalb aber auch Anstieg der behördlichen Armuttransfers bei immer geringer werdenden Leistungen und so eine Spirale der Deregulierung, die nach unten geht. Das ist die Vision des gegenwärtigen Zeitalters aus der Sicht von oben.

Zweifellos wird diese Optik in den jeweiligen territorialen Konstellationen recht unterschiedlich durchgesetzt. Nehmen wir den Fall Osteuropa. Die postsozialistischen Eliten verzichteten 1989-90 auf gemischtwirtschaftliche Interventionsschritte beim Übergang vom Staatskapitalismus zur Marktökonomie. Interne Deregulierung und schlagartige Konfrontation mit der internationalen Konkurrenz bewirkten die rapide Zerstörung der rohen staatskapitalistischen Variante der Massenproduktion, ohne daß bisher Zyklen von Neuinvestitionen - von einigen Ländern abgesehen - nachfolgten. Von der Depression geht es weiter zur Deindustrialisierung. In Rußland leben inzwischen offiziell zwei Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

Im krassen Gegensatz dazu erleben wir im Indopazifik einen neuen Boom auf der Grundlage eines blutigen, informatisierten Taylorismus und Toyotismus. Benachbart sind in China neue Entwicklungszentren mit einem Akkumulationsschub in der massenhafte Pauperisierung entstanden.

In den Metropolen stagniert die wirtschaftliche Entwicklung. In den USA ist ein sehr merkwürdiges Niedriglohnwunder bei riesiger Massenverelendung zu beobachten. England steckt in einer Depression: Dort steht trotz des Fiaskos des Thatcherismus - Sozialabbau und Steuerentlastung haben zu einer größeren Staatsverschuldung statt zur Verschlankung des Staatsapparats geführt, und das Land wird mitnichten mit neuen Investitionszyklen belohnt - kein Kurswechsel ins Haus. In Schweden hingegen hat dieser Kurswechsel stattgefunden. In West- und Mitteleuropa gibt es Regionen mit unternormalem Wachstum. Auf sie werde ich im zweiten Teil zu sprechen kommen.

Insgesamt ist also eine zunehmende geografische Differenzierung bei uniformer globaler Strategie erkennbar. Die Zukunft wird zeigen, wie weit es den internationalen Wirtschafts- und Finanzeliten gelingt, die Kompensation der Krisenspirale durch innerimperialistische Blockbildungen und Konfrontationen aufzuhalten.

2. Metropolitane Varianten des neuen Akkumulations- und Deregulierungsmodells

In Italien folgte seit Beginn der Niederschlagung der Arbeiterkämpfe in den achtziger Jahren ein wirtschaftspolitisches Regime, das in vielem den Konzepten der Reaganomics und Thatcheristen verwandt war, allerdings unter »sozialistischen« Vorzeichen. Dabei entstand eine Polarisierung der Gesellschaft in zwei Machtblöcke: Big Business, die großen Gewerkschaften, die politischen Machtstrukturen und die Staatsunternehmen auf der einen Seite, neoliberale Unternehmensstrukturen und Strukturen prekärer und selbständiger Arbeitsverhältnisse, die aus dem Regulationssystem zunehmend ausgegrenzt wurden, auf der anderen Seite. Die nach wie vor dominante Variante A, die eine durchaus verlangsamte Transformation kennzeichnete, schien zu zerbrechen, als seit 1992 Übergangsregimes an die Kernbestände des sozialen Nachkriegskompromisses - Scala Mobile, Cassa Integrazione [automat. Teuerungsausgleich über eine gleitende Lohnskala und umfassende Lohnausgleichskasse] usw. - herangingen und die Eliten als korrupte Machtsymbiose decouvriert wurden. Hier begann vor wenigen Monaten die Ära Berlusconi. Er band die politisch-ökonomische Variante B - prekäre, selbständige Arbeiter und Kleinunternehmer der Lega Nord - in den politischen Machtblock ein und versuchte, neue autoritäre mediale Voraussetzungen für die erst noch bevorstehende, entscheidende Deregulierungsoffensive (Deregulierung des Staatssektors, Zerstörung der Sozialrenten, völlige Liberalisierung des Arbeitsmarktes, Budgetrestriktionen) zu schaffen. Bevor er damit durch war, zwang ihn das Finanzkapital vorfristig zu diesem Angriff. Das war, wie die neu aufgeflammten Massenkämpfe zeigen, zu früh. Die Wiederherstellung des sozialen Friedens als Gradmesser jeder effizienten Aufspaltung des Widerstands und als Vorbedingung der endgültigen Durchsetzung des Deregulierungsmodells wird jetzt nur noch gelingen, wenn der ökonomisch verschlankte Staat ihn politisch-diktatorisch erzwingt. Andernfalls muß die Sozialrevolte in einer neuen Reregulierung aufgefangen werden.

Dagegen Deutschland. Die Umstrukturierung erfolgte eher zögerlich. Ein Durchbruch zu schlanker Produktion, Produktionsauslagerung und schlankem Staat setzte erst ab 1990/91 ein, wobei sich der Anschluß der DDR im Zug schlagartiger monetärer Substanzvernichtung als entscheidender Hebel erwies. Seither ist der sozialstaatliche Nachkriegskompromiß nicht nur konzeptionell, sondern auch praktisch-politisch erfahrbar zu Ende. In den letzten Jahren begann nicht nur eine breite Privatisierungswelle der öffentlichen Unternehmen im Transportsektor, gleichzeitig wurden auch die Tarifautonomie offen zur Disposition gestellt und die Sozialversicherung als Instrumentarium zur Abfederung der Risiken eigentumslos lohnabhängiger Existenzweisen in vielen kleinen Einzelschritten ausgehöhlt (vor allem die Bereiche Arbeitslosenversicherung und Krankenversicherung, noch nicht das Rentensystem). Das Recht auf Sozialhilfe ohne Gegenleistung ist beseitigt. In Riesenschritten beginnt auch in der BRD der Übergang von Welfare zu Workfare. Damit ging 1992/93 die erste Ausgrenzungsoperation als Angriff auf das Existenzrecht einher: Zwangsinternierung von Flüchtlingen und radikalisierte Abschiebepraxis wurden durchgesetzt.

Nach der Bundestagswahl vom 16. Oktober haben die Financiers und Unternehmenslobbyisten ganz große Keulen geschwungen. Die Drohungen mit Vermögens- und Kapitalflucht gehen einher mit Forderungen zu einem Sozialabbau, wie sie seit Beginn der dreißiger Jahre nicht mehr gehört wurden. Falls sie durchgesetzt werden, was durchaus noch offen ist, würde die bundesrepublikanische Gesellschaft in einen Strukturbruch hineingetrieben, wie wir ihn bisher nur aus England, den USA und teilweise Frankreich kennen.

Der Fall Schweiz. Sie scheint mir, aus dem Blickwinkel des Nordens, noch eindeutiger als Nachzügler. Auch die Schweiz hat in den achtziger Jahren Produktivitätssprünge durch Auslagerungen, Rationalisierungswellen und Verschlankung des sozialen Status quo hinter sich gebracht. Der Schwerpunkt liegt inzwischen offensichtlich ebenfalls auf angebotsorientierten Deregulierungen. In einigen Agglomerationen erreicht die Arbeitslosigkeit das Niveau der dreißiger Jahre. Das alternative Grundmuster zur sozialstaatlichen Integration heißt jetzt offensichtlich auch in der Schweiz Ab- und Ausgrenzung. Die ersten sozialen Stigmatisierungen der Ausländerinnen und Ausländer stehen bevor, wahrscheinlich der erste Akt eines breiteren Angriffs auf den sozialstaatlichen Status quo, der die Lohnabhängigen verängstigt. Aber gerade auch im Vergleich zur BRD verläuft der Umbau offensichtlich weniger hart und schnell. Dies liegt, wie Res Strehle mehrfach ausgeführt hat, vor allem an der weltwirtschaftlichen Sondersituation. Die Schweiz ist internationaler Finanzplatz, Zentrum vieler transnational operierender Konzerne und ein Standort für Qualitätsarbeit. Wenn, dann wird sie in die neue soziale Unfriedlichkeit erst nach Italien, Frankreich und wahrscheinlich auch Deutschland geraten. Die Schweiz ist eine Art letzter Dominostein, an dem sich ablesen lassen wird, inwieweit es den Utopisten des neoliberalen Irrsinns tatsächlich gelingt, den Globus nach ihren Visionen umzugestalten. Vielleicht besteht also gerade hier noch die Möglichkeit, die Erfahrungen aus den schon weiter transformierten Nachbarländern in die Widerstandsperspektive dieses Landes einzubeziehen. Aber auch für die Linken der Schweiz dürfte die Zeit drängen. Die weitere Deregulierung der Finanzmärkte wird den globalen Standort Schweiz bald um seine Privilegien bringen, und dann steht recht schnell eine Massenarbeitslosigkeit der Bankangestellten ins Haus.

3. Neoliberalismus und politische Macht

Im Gegensatz zu den Wirtschafts- und Finanzeliten sind die politischen Führungsschichten dort, wo sie wirkliche Macht ausüben, nur national und nur in marginalen Ansätzen supranational organisiert. Die gesamtgesellschaftlichen Regulierungs- und Umverteilungsfunktionen sind oder waren im Gegensatz zur Kapitalakkumulation an den Staat gebunden. Sie aber kommen den politischen Eliten zunehmend abhanden. Ihre Macht verfällt, je mehr sie zu subalternen Verwaltern von Staubecken für die Geld- und Kapitalströme degenerieren. Oberflächlich kommt dieser Prozeß in den vielfältigen Korruptionsaffären zum Ausdruck, mit denen sich die politischen Herrschaftsgrenzträger inzwischen herumschlagen müssen.

Was sich aber wirklich hinter »tangentopoli« usw. verbirgt, ist weitaus wichtiger. Unter dem Diktat von flexibilisierten Währungen, Zinsregimes und allgemeiner Bereicherungssucht sind politische Ideologien zusammengebrochen, deren Bandbreite von der Rechten bis tief in die sozialistischen und grünen Bewegungen hineinreicht. Diese Anpassung und Unterwerfung haben nicht nur den späten europäischen Arbeiterreformismus, sondern auch große Teile der linken Intelligenz, beispielsweise in Lateinamerika, betroffen und von innen heraus zerstört. In vielen Fällen sind »sidepayments« der neoliberalen Weltwirtschaftsinstitutionen auf den Mythos der Guerilla gefolgt. In den Metropolen entspricht diesem Prozeß am ehesten die Involution [Einwicklung] der grünen Bewegungen, die nun vor den internationalen Sachzwängen der Deregulierung genauso kapitulieren wie vor ihnen die Sozialdemokratie und die mit ihr verbündete Gewerkschaftsbewegung.

Besonders grausam ist es den osteuropäischen Oppositionsbewegungen ergangen. Seit Ende der sechziger Jahre haben wir beispielsweise viele Hoffnungen auf die Kader der späteren Solidarnosc gesetzt - Kuron, Geremeck, Modzelewski. Wir haben von der Arbeiteropposition als Massenbewegung gegen den versteinerten Tonnenindustrialismus geträumt. Wir haben gesehen, wie diese Perspektive im Ausnahmezustand zu isolierten antikommunistischen Kadern transformiert wurde, wie sich diese überlebenden Kader 1989/90 umstandslos und ohne jedes Nachdenken dem »dernier cri« des Neoliberalismus und dessen Beratern verschrieben haben. Das Fiasko der thatcheristischen Transformation vom Staatskapitalismus zur Utopie selbstregulierter Märkte ist riesig. Solidarnosc ist als populistische Randszene der neokonservativen Rechten geendet. Karol Modzelewski hat inzwischen Bilanz gezogen (»Le monde diplomatique«, November 1994). Er gehört zusammen mit der alten intellektuellen Riege von Solidarnosc heute zu denen, die die präsidialdiktatorische Fortsetzung einer Wirtschaftspolitik bekämpfen, die die Hälfte der Bevölkerung pauperisiert. Die Niederlagen meiner Generation der »new left« - auch diese Solidarnosc-Kader sind in unserem Alter - haben viele Facetten.

All diese Beispiele, vor allem aber Italien und Polen zeigen, daß der deregulierte Kapitalismus im Kampf um das rettende Ufer nicht einfach nur auf eine immer größere ökonomische Depressionsspirale zutreibt, sondern inzwischen auch politisch extrem destruktiv wird. Der Massenkonsens schwindet. Die Fassaden der Telekratie bröckeln, sobald die »common people« am eigenen Leib erfahren, wie hinterhältig sie um ihre existentiellen Sicherheiten gebracht werden. Die Revolution der Erwartungen ist durch diese neue kulturelle Hegemonie des »enrichissez-vous« aber keineswegs gedämpft worden. Die politische Destabilisierung der Verhältnisse ist die notwendige Konsequenz des Neoliberalismus. Das Band zwischen sozialstaatlichem Status quo und repräsentativ-parlamentarischer Massendemokratie beginnt tatsächlich zu reißen. Autoritäre politische Lösungen werden zu einer zwingenden Option der Wirtschafts- und Finanzeliten, ihrer Expertokratie und ihrer wachsenden Klientel von Spekulanten, Unternehmensrationalisierern und Couponschneidern. Entwicklungen zu mehr als nur formierten Demokratien müssen wir gerade auch dann ins Auge fassen, wenn wir davon ausgehen, daß die ethnisch nationalistischen Anbiederungen einiger ost- und südosteuropäischer postsozialistischer Eliten an die internationalen Finanzmärkte in ihrer Resonanz wohl eher marginal geblieben sind. Es wäre jedoch falsch, vorschnell eine Wiederholung des Umschlags von der Deflationspolitik zur faschistischen Arbeitsschlacht mit rüstungsparasitärer Nachfragemobilisierung anzunehmen, wie sie in Mittel- und Südeuropa die frühen dreißiger Jahre geprägt hat. Ich glaube, es kommt etwas ganz anderes als das, was wir unter dem Faschismus analysiert haben. Das macht die Faschismusanalyse aber keineswegs überflüssig. Im Gegenteil: Die Herausarbeitung der Unterschiede wird uns helfen, politische Alternativen zu finden.

4. Neue Proletarität

Auffächerung in der Homogenisierung oder Homogenisierung in der Auffächerung?

In globaler Perspektive öffnen sich die Klassenverhältnisse. Wenn die analytischen Voraussetzungen zutreffen, dann lassen sich für den proletarisierten und pauperisierten Teil des neuen Panoramas von Klassengesellschaft unzweideutige Homogenisierungsprozesse ausmachen. Ich spreche erstens von einer strukturellen Homogenisierung. Bedingt durch eine weltweite Freisetzung von relativer Übervölkerung [nicht beschäftigte Teile des Proletariats, vgl. Karl Marx, Kapital, MEW 23, S. 657] entstehen strukturell gleiche Wechselbeziehungen von industrieller Reservearmee, aktiver Arbeiter- und Arbeiterinnenarmee und Unterbeschäftigten. Ich spreche zweitens von einer ökonomischen Homogenisierung. Tendenziell werden überall gleichartige Neuzusammensetzungsstrukturen sichtbar: moderne Gruppenarbeiter, prekäre Schwitzbudenproletarier und Proletarierinnen, self-employed des informellen Sektors. Sie alle werden arbeitsteilig in die reorganisierten Ausbeutungsketten hineingezwungen. Und drittens behaupte ich, daß wir eine Tendenz zur geografischen Homogenisierung zu beobachten haben. Dem transnationalisierten Kapital stehen auf allen Stufen der Mehrwertkette die erforderlichen Arbeitskräftepotentiale tendenziell weltweit, standortunabhängig zur Verfügung. Swissair kann eben Computerzentralen inzwischen nach Indien auslagern.

Das alles kann natürlich, je nach Entwicklungsstadien, mit ungeheuer verschärften Einkommensdifferenzierungen unterschiedlichsten Ausmaßes von Prekarisierung, Ausgrenzung, Ghettoisierung und Überlebenschancen einhergehen. Aber das alles ist zunächst einmal nur von quantitativer Bedeutung.

Ich gebe zu, daß diese analytische Dimension völlig anders wahrzunehmen ist, wenn wir einen lokalen Blickwinkel einnehmen, wenn wir den jeweiligen Bezugspunkt an der bestimmten, definierten Ausbeutungskette als Ausgangspunkt formulieren und vor allem natürlich im aktuellen politischen Tageskampf. Die Zerklüftung des neuen Proletariats schreitet voran in eine generationen- und geschlechtshierarchische Neuzusammensetzung. Die wichtigsten Faktoren der Auffächerung - Kinderarbeit und Frauenteilzeitarbeit - werden als Durchbruchspunkte der prekären Arbeitsverhältnisse überhaupt sichtbar. Frauen sind am stärksten betroffen. Sie haben oft nur als prekäre Arbeiterinnen die Möglichkeit, unbezahlte Reproduktionsarbeit zu finanzieren. Zusätzlich nehmen völlig unsichtbare, weil nicht mehr oder nicht entlohnte Arbeitsformen zu. Ein Beispiel ist die Katastrophe der Frauen in der Ex-DDR, die in die unbezahlte Hausarbeit zurückgetrieben werden.

Als weiteren Fächer der Ausdifferenzierung erleben wir eine Ausweitung unfreier Arbeitsverhältnisse: »Forced commerce« [erzwungener Handel], Arbeitsleistung für Mieten, Arbeitsleistung für Pachtschulden, eine zunehmende »decommodification« der Arbeitsmärkte, obwohl sie voll in den Wertschöpfungsprozeß mit unbezahlten Arbeitsanteilen integriert bleiben. Wir erleben eine Auffächerung in verdeckte Lohnbeziehungen der »Subcontractors« [Zulieferer], Werkvertragsarbeiterinnen und -arbeiter, der selbständigen ArbeiterInnen. Diese Differenzierungen werden konzernintern reproduziert. Und wir erleben - vielleicht die dramatischste Form der Auffächerung - Ausgrenzungen bis zur völligen Beseitigung des Existenzrechts bei den Flüchtlingen.

Diese beiden Momente - Homogenisierung und Differenzierung - müssen wir gegeneinander stellen. Unabhängig von der Frage, wie in der Beziehung Homogenisierung und Differenzierung tendenziell überwiegende Momente zu finden sind, gibt es aber eine Möglichkeit der Synopse beider Beziehungen, und das selbst in solchen metropolitanen Reservaten, in denen sich erstens Krisengewinnler und Aufsteiger, zweitens flexibilisierte und abstiegsbedrohte Arbeiterinnen und Arbeiter sowie drittens prekarisierte und ausgegrenzte Drittel in etwa die Waage halten. Homogenisierung heißt auch »making«, Solidarisierung, gegenseitige Hilfe, Assoziation. Differenzierung heißt »unmaking«, Entsolidarisierung, Entassoziation, Individualisierung. Ich glaube, es sind beides untrennbare Teile des heutigen Sozialprozesses in der globalen Krise.

Das »unmaking« geschieht nicht von selbst, sondern durch systematische Deformation der Fähigkeiten zur Wahrnehmung der realen Grundlagen postfordistischer Ellbogenideologie: Telekratie als politische Artikulation verdoppelter und zugleich deformierter Wirklichkeitswahrnehmung. Die Auffächerung der neuen Klassenverhältnisse wird letztlich erst durch die kulturelle Hegemonie des neoliberalen Regimes befestigt, das sich gleichzeitig mit den individualisierten und flexibilisierten Arbeitsverhältnissen auf die allgemeine Flucht aus der Arbeit einstellt.

Aber auch das »making« von unten kommt keineswegs automatisch. Es gibt keinen Automatismus, der von der Wahrnehmung der realen Lage zu kollektiven Verhaltensweisen - Solidarisierung usw. - führt. Wir sollten die Debatte über Homogenisierung und Auffächerung mit einem Verweis auf den großen britischen Historiker E.P.Thompson versehen, der in seinem »Making of the english working class« dazu eine ganze Menge gesagt hat. Er wies nach, daß das »making«, die Homogenisierung eines außerordentlich differenzierten Proletariats, zwischen 1780 und 1830 ein breit angelegter Lernprozeß war, der im übrigen die Homogenisierungshoffnungen der nachfolgenden marxistischen Utopie, das große industrielle Fabrikarbeiterproletariat als Kern des Umsturzes, sozusagen ex ante (und aus der Sicht des Exkommunisten Thompson ex post) widerlegt hat.

Auch wir selbst sind Teil dieser Prozesse und müssen zuerst einmal davon ausgehen, daß wir uns zwar in der klassenanalytischen Annäherung nicht grundsätzlich irren sollten, wenn wir von sozialempirischen Evidenzen und Massenerfahrungen - Selbstuntersuchung auf breiter Ebene - ausgehen. Der reale Prozeß der kollektiven Neuzusammensetzung kann aber trotzdem ganz anders verlaufen, als wir ihn theoretisch vorwegnehmen. Zwischen gesellschaftspolitischer Analyse - militanter Untersuchung - und emanzipatorischem Handeln gibt es immer nur Annäherungen, die laufend der Korrektur durch die Massenerfahrung und die in sie eingebundene politische Praxis bedürfen. Wir sollten die Dialektik von Homogenisierung und Dissoziation des neuen Proletariats in dieser Sichtweise angehen und nicht voreilig beantworten.

5. Die Krise der Linken

Das neue Zeitalter zeichnet sich dadurch aus, daß es aus einer fundamentalen Krise ein neues Akkumulations- und Regulationssystem hervorbringt, dessen endgültige Perspektive freilich noch keineswegs auszumachen ist. Vor allem ist es aber auch ein Zeitalter der Krise der Linken. Mit »der Linken« meine ich jene gesellschaftlichen Kräfte, die sozialreformerische Prozesse allein ablehnen und nach einem völlig andersgearteten Modell gesellschaftlicher und politischer Egalität streben. Je größer und je tiefer diese Krise - unsere Krise - wurde, desto stärker war die Tendenz, die Beziehung zur eigenen Geschichte - unserer Geschichte seit den sechziger Jahren - zu verlieren. Ich glaube, daß wir von einem Verlust des kollektiven Gedächtnisses bedroht sind. Geschichtslosigkeit ist aber mehr als bloße Resignation oder Unachtsamkeit. Es ist vor allem auch ein Akt des Verdrängens. Ich will nur ein paar Stichworte nennen, über die in vielen Zusammenhängen ein stillschweigender Konsens des Schweigens besteht:

Viele unserer politischen Zusammenhänge waren im Innern autoritär strukturiert. Sie hatten sehr starke Tendenzen zur Ausgrenzung oft besonders naher Nachbarströmungen. Und das hat intern entsolidarisiert. Das bezieht sich keineswegs nur auf die neoleninistischen Gruppierungen.

Wir haben ziemlich intensiv versucht, die materialistische Kritik unserer eigenen Geschichte zu vermeiden. Wir wollen uns damit nicht konfrontieren. Wir wollen die vergangenen Optionen und Niederlagen nicht dahingehend untersuchen, inwieweit diese Niederlagen notwendig waren, nicht vermieden werden konnten und inwieweit sie vermeidbar waren.

Es gab und gibt auch eine große Unfähigkeit zu Kurskorrekturen. Ich möchte hier nur das Beispiel des bewaffneten Kampfs andeuten. Das Syndrom der Pentiti [pentiti: Reumütige, unter Kronzeugenregelungen aussagende Rotbrigadisten] ist auch eine Rache am Prinzip, daß Grenzüberschreitungen in der Militanz nur in eine einseitige Richtung vorzunehmen waren. Wenn Illegalität immer zur Ablösung vom Massenkonsens und zu einer elitären Selbstkonstitution führt, und wenn sie notwendigerweise immer dazu führen würde, dann müßten wir sie vielleicht doch prinzipiell verwerfen. Auch hier, glaube ich, muß viel aufgearbeitet und nachgedacht werden, um die zweifellos vorhandenen positiven Erfahrungen der Illegalität für die Zukunft zu bewahren.

Die eigene soziale und materielle Selbstwahrnehmung war und ist in unseren politischen Zusammenhängen oft ausgegrenzt. Dabei sollte sie nach meiner These Kern unseres politischen Engagements sein. Wir sollten gerade als Linke von unseren eigenen materiellen Lebensbedingungen ausgehen und nicht als Prekarisierte auf politischen Ersatzebenen agieren. Gerade im Prozeß und in der Erfahrung der sozialen Marginalisierung gibt es sehr starke Individualisierungserfahrungen und Rückzugstendenzen. Das ist eine an sich paradoxe Verhaltensweise, die aber aus dieser Ausgrenzung der eigenen materiellen Konstitution herrührt und gegenwärtig viele Restprojekte gefährdet.

Ich meine aber auch, daß wir in vielen Fällen unfähig gewesen sind, Teilsiege wahrzunehmen und erkämpfte Positionen auszubauen. Ich erinnere an die Frauenbewegung, die wohl von allen Sozialbewegungen am weitesten egalisierend in die Gesellschaft gewirkt hat und die - so meine ich - auch uns linke Männer ein Stück weit verändert hat. Es sollte eigentlich möglich sein, jetzt über einen neuen politischen Schulterschluß zu reden und über Bedingungen eines gemeinsamen Widerstands gegen die Deregulierung und gegen die mit ihr einhergehende »Wiederentdeckung« der unbezahlten Hausarbeit nachzudenken.

Das sind unsystematische Beispiele. Ich möchte zeigen, daß der Kampf gegen die Krise als ein Weg zu solidarischem und egalitärem Handeln immer innere Solidarität voraussetzt. Das ist ein unverzichtbarer Teil des kollektiven Gedächtnisses, denn ohne innere Solidarität kann nicht kollektiv-historisch agiert werden. Solange wir hier stagnieren, solange wir uns gegenseitig ausgrenzen und nicht aufeinander zugehen, werden wir nicht in der Lage sein, neu in das Wechselspiel von proletarischer Homogenisierung und Dissoziierung einzugreifen und wieder geschichtsmächtig zu werden.

6. Perspektiven einer neuen Klassenorientierung

Genau ein solches Eingreifen halte ich für nötig und möglich. Nur mit Klassenorientierung bleibt die Option auf eine sozialistische Alternative als einer offenen Lebens- und Gesellschaftsformation, die sich durch gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln und durch die ausschließliche Produktion und Reproduktion zur Befriedigung basisdemokratisch ermittelter gesellschaftlicher Bedürfnisse auszeichnet, belanglose Utopie. Wie soll das geschehen?

Strategisch. Ich schlage vor, die altbekannte Suche nach besonders avantgardistischen Fraktionen des neuen Klassensubjekts aufzugeben und die neuen Möglichkeiten aus der Konstitution des neuen Proletariats in ihrer ganzen Vielfalt zum Ausgangspunkt unseres Nachdenkens und Handelns zu machen. Wir brauchen also eine offene Struktur des Klassenantagonismus von unten, für alle, die ihre Arbeits- und Lebenskraft hergeben müssen, um leben zu können, unabhängig davon, ob sie entlohnt, auf Werkvertragsbasis honoriert, für Arbeitsmärkte zur Verfügung gehalten, zu nicht entlohnter Arbeit gezwungen oder patriarchalisch im informellen Sektor geknechtet werden. Das, meine ich, ist an jedem Widerstandspunkt des Globus möglich, da bei allen quantitativen Unterschieden grundsätzlich gleichartige strukturelle ökonomische Bedingungen vorliegen und zu jedem anderen Widerstandspunkt vermittelt werden können. Die Homogenisierung ist also strukturell bedingt, zugleich aber auch eine Vorwegnahme. Genau hier liegt die Aufgabe der Linken.

Es geht also nicht darum, ein neues Primat des Agrarsozialismus zu postulieren; es geht nicht darum, ausschließlich eine neue Kampagne der Prekären und Jobber in Gang zu bringen; es geht nicht darum, das sozialistische Heil allein von den aus der Arbeitslosigkeit entlassenen selbständigen Arbeiterinnen und Arbeitern zu erwarten, auch nicht von den Gruppenarbeitern, sondern wir brauchen eine offene Synthese der jeweils unterschiedlich gewichteten Kommunikationsweisen und Kampfformen am Ort. Dafür sind, immer noch strategisch gedacht, Strukturen nötig. Ich votiere für eine internationale Vernetzung der lokalen Widerstandspunkte im Sinne einer internationalen Assoziation durch erste politische Initiativen: Gegeninformation, Analyse, konkrete Hilfeaktionen.

Ich plädiere zweitens dafür, die lokalen Konfrontationspunkte mit unterschiedlichen Schwerpunkten, aber dem Ziel der Synthese aller möglichen Teilbewegungen zur Durchsetzung einer moralischen Ökonomie des Existenzwerts zu assoziieren: Recht auf Boden und Wohnung, politischer Lohn, Recht auf soziale Reproduktion. Diese neue moralische Ökonomie wäre zu realisieren durch die soziale Aneignung und kommunale Selbstverwaltung von Boden und Wohnen. Sie wäre im Kampf in und gegen die lokalen Arbeitsmärkte zu realisieren durch einen neuen »social-movement unionism« [auf sozialen Bewegungen basierende Gewerkschaftspolitik] gegen flexibilisierte Arbeitsverhältnisse, durch den Kampf für einen politischen Lohn in den Basiskomitees der Netzwerkunternehmen. Das Recht auf soziale Reproduktion wäre in kommunaler Selbstorganisation anzugehen, als Rückeroberung selbstbestimmter sozialer Reproduktionsgarantien. Die sozialstaatlichen Transferruinen sollten bei gleichzeitiger kommunaler Aneignung der ungeheuer angehäuften Privatvermögen reorganisiert und in Selbstverwaltung übernommen werden.

Ich halte es also strategisch für möglich, einen solchen Zusammenschluß in politisch-wirtschaftlich homogenisierten Assoziationen von Gegenmacht in Gang zu bringen, und zwar im Rahmen einer internationalen Vernetzung.

Die taktischen Aspekte, wie diese Perspektive anzugehen wäre, sehe ich einmal darin, daß auf dieser strategischen Basis in die bevorstehenden oder schon stattfindenden Kämpfe gegen den sozialen Generalangriff einzugreifen wäre; daß wir von hier aus aber auch an die Seite derer treten, die vom Populismus der Deregulierungsexperten am stärksten ausgegrenzt werden: Ausländer, chronisch Kranke usw.

Ich bin mir bewußt: Derartiges kann vielleicht noch gedacht, aber angesichts der Krise der Linken und der realen Kräfteverhältnisse nur noch mit Mühe und Anstrengung vorgeschlagen werden. Trotzdem bin ich vorsichtig optimistisch. Was beispielsweise seit einigen Wochen in Italien passiert, haben bis vor wenigen Wochen die meisten für unmöglich gehalten. Ich glaube also, daß ein soziales Beben, auch in den Metropolen, zu spüren ist und daß wir dieses soziale Beben wahrnehmen, uns darauf einrichten sollten. Wenn in die aktuellen Basisinitiativen bewußte Handlungsfähigkeit hineinkommt, dann werden ihre Militanten sich bald als Teil einer neuen emanzipatorischen Massenbewegung wiederfinden. Vielleicht. Ich hoffe es.

(Der Text ist das von Karl Heinz Roth durchgesehene und leicht ergänzte Transkript seines Referats. Die Anmerkungen in eckigen Klammern stammen von der Zürcher Redaktion »Vorwärts«, welche Roths Referat bearbeitete und zuerst veröffentlichte.)