Von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution

Titelblatt "Von der Bürgerlichen zur Proletarischen Revolution"

Im Jahr 1924 verfaßte der von der Sozialdemokratie zum Rätekommunismus gelangte Sozialist Otto Rühle seine Überlegungen über Bürgerliche und Proletarische Revolution, einschließlich des Programms für ein Rätesystem - Ein Zeitdokument, das wir an dieser Stelle für die Gegenwart neu zur Kenntnis bringen möchten.

Otto Rühle - Von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution (1924)

Vorwort

Das ist der Gedankengang des Buches: In einem kurzen historischen Abriss werden die charakteristischen Züge der bürgerlichen Revolutionen Europas aufgezeigt, die sich aus der geschichtlichen Aufgabe dieser Revolutionen ableiten: dem Kapitalismus als neuer Gesellschaftsmacht die Tore zu öffen.

Weil die russische Revolution eine zeitlang mit den Ambitionen einer sozialen und proletarischen Revolution auftrat, während sie im Grunde nur eine verspätete und verunglückte bürgerliche Revolution war, ist der Untersuchung ihres Charakters ein besonderes Kapitel gewidmet.

Sodann ist der Auflau des bürgerlichen Staates geschildert, als eines lebendigen Abbildes der Prinzipien und Grundformen kapitalistischen Wirtschaftsgebarung und Wirtschaftsorganisation. Wir lernen den autoritären, zentralistischen, nationalen Staat kennen und verstehen, warum er so sein muß, wie er ist.

Im Zusammenhang hiermit erschließt sich uns das Verständnis für den Parlamentarismus, der das Typische des bürgerlichen Handelsgeschäftes in die Gesetzgebung verpflanzt und in den Parteien die Hilfsorgane bürgerIicher Politik findet, die nur in Verbindung mit ihm existierenden und funktionieren.

Den Parteien wesensverwandt, nur ohne deren pseudo-revolutionäre Maske, sind die Gewerkschaten rein opportunistische Organe, die das Proletariat durch eine verhängnisvoIle Interessengemeinschaft an das Kapital ketten, anstatt es von ihm zu befreien. Als vorrevolutionäre Instrumente bürgerlicher Politik wirken Partei und Gewerkschaften unter dem Einfluße eines kleinbürgerlich eingestellten Berufsführertums unrevolutionär, konterrevolutionär. Die Forderung nach Revolutionierung der Gewerkschaften erweist sich als demagogische Flause.

Der Verlauf der deutschen Revolution seit 1918 war dem Proletariat eine Schule der Erkenntnis dafür, daß Partei und Gewerkschaften heute die stärksten Hemmnisse der proletarischen Revolution sind. Das Proletariat muß lernen, die Sache seiner Befreiung selbst in die Hand zu nehmen. Es beginnt zu begreifen, daß die proletarische Revolution in erster Linie ein ökonomisches Phänomen ist und daß ihre Vorbereitung und Aufrollung von den Arbeitsbetrieben aus zu erfolgen hat. Die hierfür nötigen Energien und Qualifikationen gewinnt es durch Erziehung zuselbstbewußtsein und Selbständigkeit.

Die Organisation der kapitalistischen Wirtschaft bildet die Grundlage für die Organisation der proletarischen Befreiung. Betriebs-Organisation, Arbeiter-Union und Rätesystem sind die Stufen des Aufstieges zur Erreichung der Macht durch das Proletariat.

Die proletarische Revolution ist in Ausmaß, Inhalt, Tendenz, Kamptaktik und Ziel völlig verschieden von der bürgerlichen Revolution. Sie ist die soziale Revolution und findet ihren Abschluß mit der Aufrichtung des führerlosen, staatenlosen, herrschaftslosen Sozialismus.

Auf, zur proletarischen Revolution!


1. Die bürgerlichen Revolutionen

Unter der Herrschaft des römischen Weltreiches hatte sich die Wirtschaft in Italien bis hart an die Schwelle des Kapitalismus entwickelt. Der militärische und politische Zusammenbruch dieser Weltmacht bedeutete aber — als Folge und Ursache in Einem zugleich das Ende der ökonomischen Entwicklung.

Was folgte, war Rückfall in frühere primitive Wirtschaftsformen und jahrhundertelange Stagnation. Erst die Kreuzzüge brachten wieder den Anstoß zu neuer Entwicklung. Als Raubzüge gedacht, die den Orient mit seinen Schätzen dem Eroberungsdrange und der Habgier abendländischer Freibeuter und Abenteurer erschließen sollten, leiteten sie für die Folgezeit eine Kette erfolgreichster Handelsbeziehungen ein, deren Stützpunkte die norditalienischen Städte wurden. Über Venedig, Florenz, Pisa, Genua wanderte das Kaufmannsgut auf uralten Heer-und Handelsstraßen nach Nürnberg. Augsburg, Ulm, um von dort aus nach Norden und Nordwesten, besonders nach Flandern und Brabant verfrachtet zu werden. In Verbindung damit wuchs, zuerst in Italien, eine bodenständige Warenproduktion empor, die Austauschgüter lieferte; die in raschem Aufschwunge begriffene Geldwirtschaft führte zur Gründung von Wechselbanken und zur Konzentration von Geldkapital in den Händen weniger Familien.

Die Frühblüte des modernen Kapitalismus setzte ein. Ihre volle Entfaltung wurde aber unterbrochen und gestört durch das Vordringen der Türken in Vorderasien und die Auffindung des Seeweges nach Ostindien. Der Verkehr mit dem Orient wurde abgeriegelt; eine völlige Verschiebung der Handelswege trat ein. Das Schwergewicht des Warenaustausches zwischen Morgen- und Abendland verschob sich von Italien nach Portugal. Die italienischen Stätdte verarmten und verfielen; ihre Renaissancekultur starb ab; die Versuche über den Wirren der Kämpfe zwischen Patriziergeschlechtern und StätdterepubIiken hinweg zu einer nationalen Geschlossenheit auf dem Boden wirtschaftlicher Einheit zu gelangen, blieben in den Anfängen stecken.

Da kein eigentliches Bürgertum vorhanden war, das sich als Klasse im modernen Sinne fühlen gelernt hätte, kam es auch zu keiner einheitlichen Geltendmachung kapitalistischer Interessen in großem Ausmaße, zu keiner selbständigen ökonomischen und staatlichen Etablierung über den Rahmen gentilhaft-dynastischer und städtisch-zünftlerischer Bedingtheit hinaus, zu keiner bürgerlichen Revolution, die einen grundsätzlichen Bruch mit der alten Ordnung der Dinge herbeigeführt und ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftssystem aufgerichtet hätte.

In Portugal und Spanien schoß der Kapitalismus treibhausmäßig empor aus einem Boden, der mit den Reichtümern neu entdeckter und schrankenlosester Ausbeutung erschlossene Erdteile aufs üppigste gedüngt war. Aber die Gunst der ökonomischen Konjunktur fand keine Staatsmacht vor, die ihrer politischen Aufgabe gewachsen gewesen wäre und das Wesen des kapitalistischen Elements begriffen hätte. Der infolge Heirat, Erbaft und Eroberung auf territorialen Internationalismus eingestellte und angewiesene Hof sah sich, wollte er seine Interessen wahren, an die einzige internationale Macht seiner Zeit gebunden, die katholische Kirche. Diese wiederum erblickte in der Staatsmacht die sicherste Verteidigerin des Glaubens, der im Grunde nur das ideologische Schutzschild für ihre im Feudalismus verankerten Wirtschaftsinteressen war. So fanden sich Kaiser und Papst, Staatsgewalt und Kirche in der Inquisition, die gegen die Ketzer wütete, deren Unglaube nur den Vorwand bildete für die Methode der Güterkonfiskationen, der hohen Geldbußen, des legalisierten Raubes und der systematischen Bekämpfung hereinwachsenden bürgerIichen Klasse, die Trägerin eines neuen Wirtschaftsprinzips war.

Die Bewegung der Comuneros, in der sich das Selbstbewußtsein kastilischer Städte aufgerichtet hatte, wurde im Blut erstikt: die hoffnungsvoIle Blüte der Textilindustrie endete in dem Chaos einer Krise, aus der sie nie wieder erholte; als Repräsentanten der frühkapitalistischen Epoche blieben nur Scharen von Lumpenproletariern zurück, die ein verarmtes Land, verfallende Städte und trostlose Einnöden bevölkerten. Zu einer bürgerlichen Revolution hatte die Kraft der jäh mit schwindelndem Reichtum überschütteten, aber ebenso jäh in die Ahgründe der Armut gestoßenen bürgerlichen Klasse nicht gereicht.

Der Seehandel, der zwischen Süden und Norden zahlreiche Fäden knüpfte, hatte in Brügge und später in Antwerpen grosse Stapelplätze für die Schiffahrt der Nord- und Ostsee errichtet. Bald waren die Niederlande kapitalistisch durchtränkt. der Mittelpunkt des gesamten europäischen Handels und die große Messe aller Nationen. Das Bürgertum, wohlhabend geworden und seines Wertes bewußt, hielt zäh am Errungenen fest und war entschlossen, Besitz und Rechte des Besitzes unter allen Umständen und gegen jede Gefahr zu verteidigen. Diese Gefahr kam von Spanien, als Philipp den gefürchteten Alba nach den Niederlanden schickte, um mit dem Raube der kapitalistischen Reichtümer den Fortbestand der spanischen Krone zu sichern. Unter dem Drucke der Gefahr verschweißte sich das niederländische Bürgertum zur kompakten Einheit einer widerstandsfähigen Klasse.

Die bürgerliche Revolution der Niederlande hat keinen aggressiven Charakter. Sie ist vielmehr ein heroischer Abwehrkampf gegen eine von außen eindringende feindliche Macht, mehr eine nationale Verteidigung als eine soziale Auseinandersetzung. Aber gerade in der Erkenntnis gemeinsamer Wirtschaftsinteressen, in dem dadurch bedingten Zusammenschluß zu nationalen Aktionen lag ein wichtiges Moment für die Konsolidierung der Kräfte, deren Summe der Kapitalismus war. Die bürgerliche Klasse der Niederlande siegte über die Macht der Spanier, weil sie den Boden einer entwickelteren und tragfähigeren Wirtschaft unter den Füßen hatte — gewiß! Aber indem sie siegte, vollzog sich die Bindung zu einer neuen nationalen Gemeinschaft und wurde die politische Freiheit proklamiert. Die starke ökonomische Potenz lebte und wirkte sich national und politisch kraftvoll aus.

Der Funkenregen der niederländischen Revolution hatte das morsche Gebäude der englischen Feudalwirtschaft in Brand gesteckt. Sehr rasch ging der Umschwung zur kapitalistischen Wirtschaftsweise vor sich: der Handel spannte sein Netz über die Meere, die Hausindustrie sog alle freigewordenen Kräfte der verarmten Bauernschaft auf, schon wuchsen große Handels- und Industriemetropolen mit Stapelplätzen, Magazinen und Kontoren, Fabriken und Banken, Werften und Übersee-Kompagnien aus der Erde. Und im ständischen Parlament eroberte die bürgerliche Klasse eine wichtige Position nach der andern.

Zum ersten Male in der Weltgeschichte wurde in England das Parlament zum Kampfplan für die Ausfechtung bürgerlich-kapitalistischer Interessen. Krone und Geldsack, Königsmacht und Bürgerwille platzten in heftigsten und erbittertsten Fehden aufeinander. Der König klammerte sich an Prärogative und Privilegien, Monopole und Steuerhoheit, höchste Befehlsgewalt und Gottesgnadentum; das Bürgertüm setzte sich mit ganzer Energie und Hartnäckigkeit ein für Gewerbe- und Konkurrenzfreiheit, Sicherung von Besitz und Arbeitsertrag, freies Spiel der Kräfte, Absatzmärkte, Profit. Um die reaktionäre Macht der Krone zu brechen, organisierte das Parlament unter Cromwell ein Heer, das, nachdem es die Monarchie ausgerottet, sofort daranging, durch Niedesrchlagung der Levellers das Privateigentum zu sichern und dem Expansionsbedürfnis des Kapitals in Irland und Schottland ein grösseres Britannien zu erobern.

Selbst als das Bürgertum, auf den Schutz durch den Militarismus angewiesen, die Rückkehr der Monarchie nicht verhindern konnte, entkleidete es diese aller tatsächlichen Macht in Dingen und Fragen des ökonomischen Lebens und drückte ihre Existenz auf den Luxuswert eines dekorativen Beiwerks herab, das sie sich nolens volens leisten konnte.

In der englischen Revolution manifestiert sich die ganze Kraft und Entschlossenheit der wirtschaftlich bereits fest verwurzelten und politisch selbständig gewordenen bürgerlichen Klasse, die alte Traditionen zerreißt, sobald sie ihr zum Hemmnis geworden sind, keine Sentimentalitäten kennt, genau weil, was sie will, und vor keinem Schritt zurückschreckt, den ihre Interessen ihr zu tun gebieten.

Die grandioseste aller bürgerlichen Revolutionen die "große Revolution" — spielte sich in Frankreich ab. Sie ist ohne Gleichen in ihrem Elan ihrem Klassencharakter und ihrem historischen Format. Die Geschichtsschreiber sehen in ihr den Markstein für den Beginn der neuen Zeit, der bürgerlichen Epoche sans phrase.

Ein Generalstab der glänzendsten Geister hatte die Revolution, die durch den katastrophalen Niederbruch des feudalen Systems unter Ludwig XIV, und seinen Nachfolgern unvermeidlich geworden war, ideologisch vorbereitet. Montesquieus "Geist der Gesetze" lieferte die Bausteine für das Fundament der späteren revolutionären Verfassungen; Rousseau entwarf in seinem "Gesellschaftsvertrag" das Bild eines neuen Zustandes der Gesellschaft; die Enzyklopädisten setzten sich mit viel Geist und Eifer für die "Umwandlung der allgemeinen Denkart ein; Voltaire zerstörte den Nimbus überkommener Autoritäten und propagierte die neuen Gesetze einer natürlichen Moral; Sieyès begründete mit zwingender Logik und zündender Beredsamkeit die politischen Ansprüche des "dritten Standes". Und während die Masse der Kleinbürger und Arbeiter rohe Kärrnerarbeit verrichtete, indem sie die Bastille erstürmte, nach Versailles zog, sich der Tuilerien bemächtigte und den König aufs Schaffot schleppte, ließ die Bourgeoisie nach den Intentionen ihrer politischen Führer und geistigen Ratgeber das Bauwerk eines neuen Staates erstehen, der für sie zu einem komfortablen Wohnpalast für das Proletariat zu einer verhaßte militärisch gesicherten Zwingburg werden sollte. Alle Versuche der um die Früchte der Revolution Geprellten, ein Mitbestimmungsrecht innerhalb der neuen Ordnung zu erlangen, wurden blutig abgeschlagen: Marat, die Hébertisten. Danton und schließlich Robespierre, das unbequem gewordene Haupt der Tugendrepublik, blieben auf der Strecke. "Die Räuber haben gesiegt!" rief Robespierre bei seiner Verhaftung aus in der Tat, die beutelüsterne Bourgeoisie kam ans Ruder. Die Kleinbürger wurden mit unerschwinglicher Steuerlast bepackt, dem Proletariat wurde das Koalitionsrecht verweigert. Freiheit und Gleichheit des Wahlrechts verschwanden unter dem brutalen Betruge des Zweikammersystems, und die Brüderlichkeit erlag der Diktatur des Direktoriums. Baboeufs verzweifelter Versuch, den verratenen Kommunismus in letzter Stunde noch zu retten, endete auf dem Blutgerüst. Dafür erwuchs der Bourgeoisie in Napoleon der Heros, der ihr die Kränze des Ruhms und materiellen Erfolges aus den Wolken holen sollte. Sie wollte produzieren, vevkaufen, verdienen, den Weltmarkt erobern, Reichtum scheffeln. Der Kapitalismus sollte triumphieren. So wurde der Zäsarismus Bonapartes zum letzten und eigentlichen Vollstrecker des wirtschaftlich fundierten und politisch fixierten Machtwillens der Bourgeoisie.

Die Linie der bürgerlichen Revolutionen, die in Frankreich ihren Höhepunkt erreichte, erfuhr einen jähen Abfall in der deutschen Revolution von 1848.

Die im Mittelalter begonnene kapitalistische Entwicklung, die Anstof und Nahrung vom Orient- und Levantehandel der norditalienischen Städte empfangen und ihre ideoIogischen Reflexe in der Reformation ausgestrahlt hatte, war nach Verlegung der Handelswege langsam abgestorben und schliesslich erloschen. Der Feudalismus hatte wieder Wuurzels geschlagen: mit Bauernkrieg und Dreißigjähigem Krieg war dem Volke so kräftig zur Ader gelassen worden, daß es das Joch schwärzester Reaktion durch Jahrhunderte mit stummer Ergebung trug. Noch um 1800 war die vorherrschende Betriebsform das Kleinhandwerk. Wo der Kapitalismus zur Produktion übergegangen war, fristete er die Bauindustrie oder in staatlichen Manufakturen unter dem Polizeistocke der merkantilistischen Reglementierungswut ein kümmerlisches Dasein. Erst als Napoleon dem Erwerbsinn seiner kapitalistischen Auftraggeber die östlichen Märkte mit Waffengewalt öffnete, besonders aber als er im Rivalitätskampfe mit England die Kontinentalsperre verhängte, kam ein frischer Luftzug in die dumpfe und enge preußisch-deutsche Gesindestube. Bald rasselten Maschinen, Fabriken wuchsen aus der Erde, und in Rheinland. Sachsen und Thüringen entfaltete sich eine große Industrie. Die Bourgeoisie begann als Klasse zu erwachten und ihre politischen Forderungen anzumelden. Aber wir überall stellten sich ihr Krone und Adel als Repräsentanten des Feudalsystems hindernd in den Weg. Den Ruf nach einer Konstitution, die den Forderungen der bürgerlichen Klasse gerecht würde, beantworteten die Hohenzollern mit Verfolgung, Wortbruch und provokatorischem Hohn. Schließlich löste die Februar- Revolution in Paris 1848 als schaches Echo die deutsche Revolution aus. Der Umstand, daß der definitive Anstoß zur Erhebung gegen veraltete Zustände und Privilegien von außerhalb kam und eine Bourgeoisie vorfand, die, feige und politisch ungeschult, noch nicht zur Geschlossenheit einer revolutionären Klasse gelangt war, hatte zur Folge, daß die Bewegung nicht ausreichte, um die bisherigen staatlichen Grundlagen zu zertrtrümmern und einen Einheitsstaat mit republikanischen Formen zu schaffen, wie sie den Interessen der aufsteigenden kapitalistischen Wirtschaft entsprachen.

Die deutsche Bourgeoisie gab sich mit dem mageren Erfolge halber Freiheiten, lahmer Zugeständnisse und fauler Kompromisse zufrieden. Sie überließ die Führung der Revolution einem Klüngel verworrener und rivalisierender Ideologen, während die Träger der industriellen Entwicklung erschreckt durch die vom französichen Proletariat mit grosser Energie geltend gemachten Klassenziele, sie rasch wieder in die weit geöffneten Arme der fürstlichen Reaktion flüchteten. Ja, als in Paris die Junischlacht das kämpfende Proletariat niederkartkartäscht hatte und die Reaktion die Luft wieder frei fühlte, um frecher als je ihr Haupt zu erheben, gingen in Deutschland auch diese armseligen Resultate dem Bürgertum wieder verloren. Man verzichtete auf politische Ambitionen, begnügte sich mit dem Geschäft der Profitmacherei und lebte in alter Bedientenhaftigkeit weiter.

Es war schließlich Bismarck, der mit dem Mittel preußischer Hausmachtspolitik der Bourgeoisie zu ihrer historischen Rolle verhalf. Auf dem Wege zu einem deutschen Einheitsstaate unter preußischer Vormacht, der dem rasch anwachsenden Kapitalismus einen grossen Absatzmarkt darbot und neue Entwicklungsmöglichkeiten erschloß, schlug er 1866 Österreich als politischen, 1870-71 Frankreich als wirtschaftlichen Konkurrenten aus dem Felde. Mit dem Reichtagswahlrecht räumte er der Bourgeoisie ein politisches Mitbestimmungsrecht ein. An die Spitze des Reiches stellte er ein halbabsolutistisches Kaisertum, ein Symbol für den zwischen Feudalmacht und Bourgeoisie, Krone und Geldsack eingegangenen Kompromiss.

Als Deutschland nach vier Jahren Weltkrieg zusammenbrach, fand das inzwischen kolossal erstarkte Bürgertum die Kraft der Verzweilung, dem Kompromiß, das zu einer Gefahr für seine Herrschaft und Existenz geworden war, jäh ein Ende zu machen. In der Wahl zwischen Thron und Geldschrank entschied es sie kurz entschlossen für Letzteren, warf die Kaiser und Könige über Bord, richtete die Republik auf, gab sich eine neue Verfassung und vollendete — unter lebhafter Mithilfe der in Parteien und Gewerkschaften organisierten Arbeiterschaft — die bürgerliche Revolution von 1848.

Als letzte in der Reihe der grossen bürgerlichen Revolutionen Europas ist die russische Revolution gefolgt.

Der russische Feudalismus ein Wirtschaftskoloß von bärenhafter Ursprünglichkeit und Wiederstandskraft, dem die Despotie des Zarismus die politische Form lieh, hatte durch den Krieg mit Japan eine Erschütteung erfahren, die sofort Kräfte frei werden liess, in denen das Bedürfnis der zur kapitalistischen Wirtschaftsweise übergegangenen Schichten nach politischen Freiheiten und Neuerungen seinen Ausdruck fand. Das Verlangen der Bourgeoisie nach einer Konstitution wurde aber sofort erweitert und verstärkt durch die Forderung des Industrieproletariats nach Minimallöhnen, Achtstundentag, Arbeiterschutz, Koalitions- und Streikrecht, freiem Wahlrecht, usw. Denn das war eines neues, in den bürgerlichen Revolutionen bisher noch nie verzeichnetes Moment: die russische Revolution hatte von Anfang an einen starken proletarisch-sozialistischen Einschalg. Whole hatten auch in früheren Erhebungen grössere unde kleinere Teile der Arbeiterschaft mitgekämpft und geblutet: aber sie waren immer nur Anhängsel und Gefolgstruppen der bürgerlichen Klasse gewesen. Selbst in in der deutschen Revolution von 1848 waren die Märzkämpfer in Berlin als schichte, meist unbekannte Arbeiter, nicht als bewußte Proletarier und Klassenkämpfer gefallen. In Rußland hingegen trat zum ersten Male der Proletarier der Sozialdemokratie, abgelöst von der politischen Rolle der Bourgeoisie, miteingenen revolutionären Forderungen und Zielen auf der Schaubühne der Geschichte auf. Wohl nahm die erste Phase, vom Zuge der petitionierenden Massen nach dem Winterpalast des Zaren unter Führung des Popen Gapon angefangen bis zum Erlaß des Oktober-Manifestes, noch den typischen Verlauf aller bürgerlichen Revolutionen, bei denen es um liberale Ziele geht, Schon aber in der nächsten Phase verloren sich die bürgerlich-liberalen Stimmen, ohnehin verzagt und dünn genug für die Harthörigkeit der russischen Reaktion, in dem dröhnenden Orkan der Massenforderungen entrechteter Proletarier und aufs Blut gepeinigter, verarmter und verwahrloster Bauern. Mochte es der kräftig verwurzelten Gegenrevolution auch gelingen, die ersten parlamentarischen und juristischen Zugeständnisse an das bürgerliche Element wieder zu entreißen und den revolutionären Aufschrei der Massen mit blutigen Exekutionen und hinter Zuchthausmauern zu ersticken, so gewann sie damit doch nur einen Aufschubg, aber keine Rettung. Ja, im Gegenteil, die gewaltsam aufgestaute Kraft der Revolution entlud sich, nachdem drei Jahre Weltkrieg die Fesseln gelöst, in einer Explosion von solcher Kraft, daß das ganze System des Zarismus wie Pulver erstob und keine Spur mehr übrig ließ. Der dünnen Stimme der russischen Bourgeoisie freilich entsprach eine schwache Energie: sie vermochte ihre geschichtliche Aufgabe nicht zu lösen. Da griff das Proletariat in die Speichen und riß die Regierungsgewalt an sich. Es schloß Frieden, proklamierte die Diktatur des Proletariats und schickte sich an, aus dem Chaos der untergehenden Welt des Zarismus den tanzenden Stern des Sozialismus aufsteigen zu lassen.

Hätte 1917 der Imperialismus der russischen Bourgeoisie gesiegt, Konstantinopel erobert und all seine Kriegsziele erreicht, würde in Rußland eine bürgerIiche — liberale Epoche nach englischem, französischem aus deutschem Vorbilde eingesetzt haben. Aber hatte der Weltkrieg nicht nur der alten Feudaldespotie. sondern auch jeder irgendwie denkbaren kapitalistischen Bourgeois-Regierung den Boden unter den Füßen entzogen. Denn das ausländische Kapital war verjagt: das inländische, ohnehin nur mässig entwickelt,war zerstört. Das Fiasko der Miljukow, Gutschkow, Kerenski war also unvermeidlich. Schliesslich blieb, um überhaupt zum Ausschluss des Krieges zu gelangen, nur das Proletariat als Trägerin der Staatsgewalt und Vollstreckerin des Volkswillens übrig.

Das Proletariat aber stand unter der politischen Führung der Intellektuellen, die ihre Schulung im Geiste der westeuropäischen Sozialdemokratie genossen hatten. Sie waren Sozialisten und wollten den Sozialismus. Nun schien ihnen die Ergreifung Staatsgewalt in Rußland konkret die Handhabe zu bieten zur Verwirklichung der sozialistischen Idee.

Die Mitwelt stand vor einer Sensation: die russische Revolution, soeben noch eine spätgeborene, schwächliche bürgerliche Revolution schlug im Handumdrehen um in eine proletarische Revolution. Anfang und Ende der bürgerlichen Epoche fielen in eins zusammen. War das Wirklichkeit oder Täuschung?


II. Das russische Problem

Es ist die historische Aufgabe der bürgerlischen Revolution, den Absolutismus der Feudalzeit zu überwinden und dem Kapitalismus rein Wirtschaftssystem an Bahnen der bürgerlich-liberalen Staatsordnung zu rechtlicher Geltung und gesellschaftlicher Anerkennung zu verhelfen.

In allen Länder mit ehedem feudalistischer Wirtschaft und absolutistischer Herrrschaftsform hat die bürgerliche Revolution diese Aufgabe erfüllt. Sie hatte nie das Ziel und den Beruf, das Prinzip der ökonomischen Basis und der auf ihr beruhenden Sozialordnung, nämlich das Privateigentum an den Produktionsmitteln anzutasten oder gar aufzuheben. Sie wechselte nur jeweilig die Klasse, die als Repräsentantin dieses Prinzips die Herrschaft oder das Ganze ausübte.

Während in der Feudalepoche der Adel diese Klasse darstellt, die auf den Privatbesitz an Grund und Boden gestützt‚ im ständisch gegliederten despotisch verwalteten Patriarchatstaat mit dem Monarchen an der Spitze die Herrschaft führt, übernimmt in der kapitalistischen Zeit die Bourgeoisie — als Privatbesitzerin von Waren und Geld — das sich im konstitutionellen Staate mit Parlament und Kabinett, am idealsten in der Form der parlamentarischen Republik, etabliert.

Die bürgerliche Revolution fand überall, wo sie in Erscheinung trat, die bürgerliche Klasse vor. Diese war sich ihrer geschichtlichen Mission mehr oder weniger bewußt. Sie hatte auch die revolutionäre Bewegung zum mindesten ökonomisch, oft auch ideologisch vorbereitet. Unter dem Drucke unausweichlicher Notwendigkeiten, die sich aus dem Widerstreit der alten und neuen Tendenzen eingaben, war sie ließlich Trägerin der revoIutionären Aktion geworden und hatte die politische Macht erkämpft, um diese sofort nach dem Siege zum Aufbau der bürgerlichen Staats-und Gesellschaftsordnung zu benützen.

Lediglich der Erfolg der Revolution, der darin besteht, daß die kapitalistische Wirtschaftsordnung und die ihr adäquate Gesellschaftsordnung ihre Resultate sind, bestimmen ihren Charakter als bürgerliche Revolution. Der Umstand, daß auch proletarische Schichten einen bald kleineren, bald größeren Teil der revolutionären Kämpfer bilden, kommt für die Bestimmung des historischen Charakters der Revolution nicht in Betracht. Selbst dann, wenn das Proletariat bereits als Klasse formiert ist und mit eigenen politischen Klassenzielen in der Revolution marschiert, ja diese vielleicht in ihrem Verlaufe erheblich beeinflußt oder gar beherrscht, ändert sich am historischen Charakter der Revolution nichts. Der schwache oder stark, proletarische Einschlag einer bürgerlichen Revolution kann deren Ablauf verlangsamen oder beschleunigen, zeitweilig ablenken oder stören, kann ihr Gesicht vorübergehend verwischen oder entstellen, kann ihren Erfolg beeinträchtigen oder zeitweilig gefährden, aber am Wesen der Revolution, ihrer sozial-ökonomischen Konsistenz, ihrem historischen Charakter, der ihr Prinzip manifestiert, vermag er nichts zu ändern. Auch im bürgerlichen Staate und in der Armee stellen die Proletarier das stärkste Kontingent, bilden sie einen großen klassenmässigen Einschlag — und doch wird um deswillen niemand versucht sein, den bürgerlichen Staat einen proletarischen zu nennen oder von einer proletarischen Armee zu sprechen. Selbst die rote Armee Sowjet-Rußlands, die lediglich aus Bauern und Proletariern besteht, ist eine nach bürgerlichen Muster aufgebaute und nach den Gesetzen bürgerlicher Staatspolitik funktionierende Militär-Maschinerie, die nur politische Demagogie mit der Absicht der Täuschung als proletarische Armee bezeichnen kann.

Wo und wann proletarische Schichten in der bürgerlichen Revolution eine Rolle spielen, erscheinen sie immer im Gefolge der bürgerlichen Klasse, teils als gemietete Preisfechter, teils als Mitläufer, teils als politische Hilfstruppen mit unklarer Orientierung. Sie bilden oft den Rumpf, meist den Schwanz der Bewegung, nie den Kopf. Dieser ist immer bei den Kaufleuten, Bankherrern. Berufspolitikern, Advokaten, Intellektuellen, Literaten. Hier werden die Forderungen formuliert, die Programme entwickelt, die Ziele gesetzt, die Parolen ausgegeben. Hier wird bürgerliche Politik gemacht. Das historische Gesicht der Revolution empfängt von hier aus seine Prägung.

In den ersten bürgerlichen Revolutionen konnte das Proletariat als Klasse überhaupt noch nicht auftreten, weil es als solche noch nicht hinreichend entwickelt war. Erst in England fing es an, sich klassenmäßig abzugrenzen von dem Gros der in starken Organisationen zusammengefaßten Bourgeoisie. Aber es war noch immer kräftig untermischt mit kleinbürgerlichen Elementen und seine Programme gingen nie über den Radikalismus dieser Schichten hinaus. So schritten die Levellers neben den linken puritanischen Sekten zwar an der Spitze der revolutionären Kämpferschaft, gleichwohl blieb ihre ganze Einstellung zum revolutionären Problem befangen in der Ideologie ihrer Zeit, die bestenfalls bürgerlich war. Angelpunkt aller bürgerlichen Orientierung ist: daß das Privateigentum gewahrt bleibt. Soweit radikale Gruppen und Sekten dagegen verstießen, geschah dies aus einem falschverstandenen Urchristentum heraus, dessen Postulate zu wörtlich interpretiert, schon bei den ersten Versuchen einer Verwirklichung zum Scheitern verurteilt gewesen wären‚ weil alle Bedingungen des sozial-ökonomischen Milieus ihnen widerstrebten.

Auch in der französischen Revolution fehlte das Proletariat alle Klasse die entwickelte Reife der bürgerlichen Klasse ließ es gar nicht aufkommen. Nicht einmal sechzig Jahre später, in der französischen wie in der deutschen Revolution trat klassennmäßiger proletarischer Einschlag zu Tage. Erst ein halbes Menschalter darnach setzte die Aufrüttelungsarbeit Lassales ein mit dem Ziele, durch Erweckung des Klassengefühls beim Proletariat die allmähliche Erziehung zum Klassenbewußtsein anzubahnen.

Die russische Revolution konnte — ihren historischen Bedingungen nach — von Anfang an nur eine bürgerliche Revolution sein. Sie hatte den Zarismus fortzuräumen, dem Kapitalismus den Weg zu ebnen und der Bourgeoisie politisch in den Sattel zu helfen.

Durch eine ungewöhnliche Verkettung von Umständen sah sich die Bourgeoisie außer Stand gesetzt, ihre historische Rolle zu spielen. Das Proletariat, das an ihrer Stelle auf die Bühne sprang, machte sich zwar im Augenblick durch ein unerhörtes Aufgebot von Energie, Kühnheit, Schlagfertigkeit und Klugheit zum Herren der Situation, geriet aber in der Folgezeit in eine verhängnisvolle Zwickmühle. Dem phaseologischen Schema der Entwicklung nach, wie es Marx formuliert und vertreten hat, hatte in Rußland auf den feudalistischen Zarismus der kapitalistische bourgeois Staat zu folgen, dessen Schöpfer und Repräsentant die bürgerliche Klasse ist.

In der Regierungsmacht aber saßen seit 1917 nicht Bürger, sondern Proletarier, die den kapitalistischen Bourgeoisstaat verneinten und willens waren, eine wirtschaftliche und soziale Neuordnung im Sinne der sozialistischen im Theorie durchzuführen.

Zwischen Feudalismus und Sozialismus klaffte eine Lücke von rund hundert Jahren, durch die das System der bürgerlichen Epoche ungeboren und ungenüzt hindurchfiel.

Die Bolschewiki unternahmen nicht mehr und nicht weniger, als mit einem kühnen salto mortale eine ganze Entwicklungsphase in Rußland zu überspringen.

Selbst wenn man gelten läßt sie dabei auf die Weltrevolution rechneten, die ihnen zu Hilfe kommen und das Vacuum der Entwicklung im Innern durch Unterstützung aus dem grossen Kulturfonds von außen ausgleichen werde, blieb diese Kalkulation eine Tollkühnheit, weil sie sich lediglich auf eine vage Hoffnung stützte. Tollkühn war auch das Experiment, das dieser Kalkulation entsprang.

Die erste Tat der bolschewistischen Regierung war der Friedensschluß in Brest-Litowsk. Aber dieser Vertrag, abgeschlossen mit einer hochkapitalistischen Bourgeoisregierung, war ein Akt bürgerlicher Politik. Eine wirklich proletarische Revolution wäre in feindlicher Haltung verblieben, hätte die deutschen Streitkräfte weiter gefesselt, um dem deutschen Imperialismus den Sieg im Westen zu vereiteln, und hatte ihrerseits alle Kräfte für die Förderung der Weltrevolution mobilisiert. Rosa Luxemburg hat dieser Auffassung seiner Zeit schärfsten Ausdruck gegeben.

Im Zusammenhange mit dem Friedensschluße erklärten sich die Bolschewiki für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, auf Grund dessen die Ablösung Finnlands, Polens, des Baltikums, der Ukraine und des Kaukasus von Rußland erfolgte. Diese Parole war der Ausriß bürgerlicher politischer Orientierung. Die Folge war einerseits der russische Nationalstaat, der kein proletarisches Ziel ist, und anderseits der Zusammenbruch der proletarischen Revolution in den abgelösten Staaten. Eine proletarische Revolution hätte hier Solidarität beweisen müssen über alle Grenzpfähle und nationalen Schlagbäume hinweg.

Den größten Sündenfall aber begingen die Bolschewiki mit der Aufteilung des Großgrundbesitzes an die Bauern. Dadurch erhielten die Bauern Privateigentum. Sozialismus indeß soll nicht mit der Einführung, sondern mit der Beseitigung des Privateigentums beginnen. Die Maßnahme war also ein Schlag ins Gesicht der sozialistischen Idee. So selbstverständlich sie als Regierungsakt einem bürgerlichen Staatsgewalt gewesen wäre (etwa wie zur Zeit der französischen Revolution), so indiskutabel, ja grotesk ist die als Ausdruck proletarischer Politik. Denn die zum Privatbesitz gelangte Bauernschaft, etwa 85 Prozent der Bevölkerung Rußlands wurde dadurch direkt zur Feindschaft gegen den Sozialismus augerufen.

Die Konsequenz dieser Politik wirkt sich in dem unüberbrückbaren Gegensatze zwischen Land und Stadt, Bauernschaft und Industrieproletariat aus. Sie führte zum Boykott der Städte, zur Verweigerung von Lebensmitteln, zur Sabotage der staatlichen Versorgungsorganisationen die kapitalistisch eingestellte Bauernschaft, zu einer Politik in der Richtung der Bauerninteressen zu einer Kapitulation vor dem Profit.

In der Tat hat die bolschewistische Regierung diesem Weg gehen müssen. Während sie sich noch 1917 auf die Landlosen stützte und die armen Bauern neben den Industrieproletariern ihre sicherste Gefolgschaft stellten, hält sie es jetzt mit den besitzenden Bauern, schafft Pächter und große Eigentümer, gibt den Getreidehandel frei, gestattet und fördert so das Aufkommen einer kapitalistisch interessierten Bauernschaft, deren politische Geschäfte sie besorgt.

Parallel dazu, in denselben bürgerlichen Geleisen, ist die Wirtschaftspolitik gegenüber der Industrie verlaufen. Die Bolschewiki führten die Nationalisierung der Industrie, der Transportmittel, Banken, Fabriken usw. durch und erweckten damit ganz allgemein den Glauben, daß es sich dabei um sozialistische Maßnahme handle. Jedoch im Nationalisierung ist nicht Sozialisierung. Durch Nationalisierung kann man zu einem großzügigen, straff zentralistisch durchgeführten Staatskapitalismus kommen, der gegenüber dem Privatkapitalismus mancherlei Vorteile aufweisen mag. Allein er bleibt Kapitalismus. Und wie man sich auch dreht und wendet, bei ihm gibt es kein Entrinnen aus dem Banne bürgerlicher Politik. So ist man denn auch in Rußland zu großen Konzessionen an ausländische Kapitalisten gekommen, denen Bodenschätze und Arbeitskräfte zur Ausbeutung — bei Gewinnbeteiligung des Staates — überliefert worden sind. Die Börse ist wieder eröffnet. Ein Heer von Händlern, Unternehmern, Agenten, Maklern, Bankleuten, Schiebern, Spekulanten und Jobbern hat sich wieder eingefunden und eingenistet. Durch das Dekret vom 27 Mai 1921 ist das Eigentumsrecht auf Fabriken und Werkstätten, Industrie- und Handelsanlagen, Instrumente und Produktionsmittel, landwirtschafliche und industrielle Produkte, finanzielle Kapitalien, das Recht auf Erfindungen, Autorechte, Fabriksmarken, das Recht, Hypotheken aufzunehmen oder Geld zu leihen, sowie das testamentäre oder gesetzliche Erbrecht ausdrücklich wieder annerkannt. Damit ist die bürgerliche Ordnung im vollem Umfange und in allen wesentlichen Teilen hergestellt.

Hierzu gehört auch neben der bürgerlichen Gerichtsbarkeit, deren organisatorischer Aufbau sich vollzieht, die rote Armee, die eine durchaus bürgerliche Armee ist und im Sinne bürgerlich-kapitalistischer Interessen funktioniert. Im Rahmen der Politik, die in erster Linie vom Schutze des Agrarprofits diktiert ist, stellt sie die schärfste Waffe zur Verteidigung von Grund und Boden dar, zunächst gegen die Kolschak, Denikin, Wrangel usw., früher oder später aber auch gegen die Forderungen der proletarisch-sozialistischen Revolution.

Nicht zum Letzten ist ein eklatanter Ausdruck bürgerlicher Politik die in Rußland aufgerichtete Diktatur der kommunistischen Parteiführer, die fälschlich als Diktatur des Proletariats bezeichnet wird. Hinter diesem anti-revolutionären Schutzschirm verbirgt sich, wie jedermann weisst, die Allmacht einer kleinen Handvoll Leute, die die Beherrscher der autoritär-zentralistisch organisierten Kommissariate-Bürokratie sind. Als umgestülpter Zarismus ist diese Partei-Diktat eine völlig bürgerliche Angelegenheit.

Schon diese wenigen Konstatierungen ergeben und beweisen, daß die russische Regierung, entgegen ihrer gewiß redlichen Absicht proletarisch-sozialistische Politik zu treiben, durch die Macht der Tatsachen auf Schritt und Tritt zu bürgerlich-kapitalistischer Politik gedrängt worden ist. Selbst da, wo es ihr eine Zeitlang gelang, Keime einer sozialen Revolution zu entwickeln und Ansätze zu einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit sozialistischem Charakter zu schaffen, hat ihr Bemühen schliesslich mit einem Fehlschlag geendet, so daß sie sich zum Aufbau der Versuche und Experimente gezwungen sah.

Und als sich die besten und ehrlichsten unter den Kämpfern für eine soziale Revolution dem Widersetzten, sind die bolschewistischen Machthaber nicht eine Minute davor zurückgeschreckt, sie zu Hunderten und Tausenden — ganz nach bürgerlich-kapitalistisch-zaristischer Methode in die Zuchthäuser zu werfen, nach Sibirien zu verschicken oder zum Tode zu verurteilen. Ein Trotzki spielte mit derselben Kaltblütigkeit den Henker der Kronstadter Matrosen, mit der ein Gallifet französische, ein Noske deutsche Revolutionäre abschlachten ließ,

Es war ein historischer Irrtum zu glauben daß die russische Revolution der Anfang einer sozialen Revolution sei. Und es läuft auf einen demagogischen Betrug hinaus, in den Köpfen von Proletariern diesen Glauben zu erwecken und zu erhalten.

Wenn die Sozialisten in der russischen Regierung nach dem Siege über den Zarismus der Meinung waren, daß sich eine Phase historischer Entwicklung überspringen und der Sozialismus konstruktiv verwirklichen lasse, so hatten sie das ABC marxistischer Erkenntnis vergessen, wonach der Sozialismus nur das Ergebnis einer organischen Entwicklung sein kann, die den bis zur äußersten Reife gediehenen Kapitalismus zur unerlässlichen Voraussetzung hat. Sie haben diese Vergesslichkeit bezahlen müssen mit eineme großen, mühseligen und opferreichen Umwege, auf dem sie nach Jahr und Tag beim Kapitalismus landen.

Den Kapitalismus auzurichten und den bürgerliche Saat zu organisieren ist der historische Beruf der bürgerlichen Revolution. Die russiche Revolution war und ist eine bürgerliche Revolution, nicht mehr und weniger; der starke sozialistische Einschlag ändert nichts an diesme Wesentlichen. So wird sie ihre Aufgabe erfüllen indem sie früher oder später die letzten Reste ihres Kriegs-Kommunismus abwerfen und das Gesicht eines echten und rechten Kapitalismus enthüllen wird. Die Kämpfe innerhalb der bolschewistischen Partei beweisen diesen Entschluß und damit das Ende der bolschewistischen Parteidiktatur vor. Die Linie der Entwicklung ist noch nicht ganz eine Parteikoalition, die den Ablauf der kapitalistischen Periode ihm beschleunigt oder mildert, ob ein Bonaparte, der sie verschärft und verlängert — beides ist möglich.

Das Parallelogramm der Kräfte wird eine richtige Diagonale finden.


III. Der bürgerlich-kapitalistische Staat


Die bürgerliche Wirtschaftsordnung beruht auf dem Besitz von Kapital, der Produktion von Waren, der Ausbeutung von Lohnarbeitern und der Gewinnung von Profit.

Der bürgerliche Staat ist die Organisation im der öffentlichen und rechtlichen Gewalt zu einem Herrschaftsmechanismus, der die Funktion und den Erfolg der bürgerlichen Wirtschaftsordnung sichert. Alle Kräfte und Mittel, materielle wie ideelle, über die der Staat verfügt, stehen direkt oder indirekt im Dienste des Kapitals. Die Verfügungsgewalt über die Staatsmacht liegt in den händen der bügerlichen Klasse. Die Direktiven für den Gebrauch der Staatsgewalt empfängt sie aus den wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Im Interesse höchster Zweckmäßigkeit des Gebrauchs ist die Organisation des Staates nach Massgabe dieser wirtschaftlichen Notwendigkeiten erfolgt.

In der kapitalistischen Wirtschaft ist der Kapitalist Herr des Produktionsprozesses. Er kauft die Rohstoffe ein, besitzt die Produktionsmittel, bestimmt das Produktionsverfahren, verkauft die Ware, heimst den Profit ein. Er baut die Fabriken, sucht die Märkte auf, versorgt die Kundschaft, regelt den Geldverkehr, zahlt den Lohn aus. Er ist Kommandeur, Repräsentant, höchste Instanz. Er hat das Geld. Er ist Autorität. Wie in der Wirtschaft, so im Staat. Der Kapitalist verlangt Freiheiten, die ihm der Feudalstaat verweigerte: Handelsfreiheit, Gewerbefreiheit, Konkurrenzfreiheit. Er braucht die Freizügigkeit, die Befreiung von Feudallasten und Zunftschranken, das Selbstbestimmungsrecht, das Recht der Persönlichkeit. Er fordert die Sicherstellung seiner Besitztitel, den gesetzlichen Schutz des Ausbeutungsprozesses, die Legitimierung des Profits, die gesellschaftliche Sanktionierung seiner Autorität.

In der staatswissenschaftlichen Theorie des Liberalismus sind alle Gesichtspunkte und Grundsätze niedergelegt, nach denen der kapitalistische Bourgeois seinen Staat, den bürgerlich-kapitalistischen Staat, organisiert wissen will. Alle freiheitlichen Forderungen und Ziele, darauf gerichtet, dem Kapitalismus die vollste Freiheit seiner Entfaltung zu schaffen und zu sichern, sind hier zu einem System verwoben. Die philosophische Verankerung dieses Systems ist gegeben im Individualismus, wie er in England von Locke, Shaftesbury, Hume, in Frankreich von Bayle, Voltaire, Helvetius, Rousseau und den Enzyklopädisten, in Deutschland von Leibnitz, Lessing, Fichte begründet, aufgebaut wurde. Als "Aufklärung" begonnen, hatte diese philosophische Schule sich zuerst in England, wo nach der Revolution die Balum für die schrankenlose Entfaltung bürgerlich-materieller Interessen freigeworden war, der politischen und sozialen Gebiete bemächtigt und schließlich in dem Grundsatze des manchesterlichen Liberalismus: "Laisser faire, laisser aller‘" (Laß geschehen, laß gehen!) ihre Formulierung und stärkste Betonung gefunden. Die ganze Atmosphäre der großen französischen Revolution ist vom Geiste des bürgerlichen Individualismus beherrscht, wo seine Manifestation als Antwort auf dem schweren Druck der alten staatlichen und kirchlichen Verhältnisse in kühnsten Gesten und stärksten Exaltationen erfolgte. In Deutschland, dessen bürgerliche Klasse sich von Anfang an durch Schwunglosigkeit und berechnende Duckmäuserei auszeichnete, verblaßte der philosophische Ideengehalt des Individualismus sehr rasch zu einen nüchternen Egoismus. der sich vorwiegend materiell auslebte. Die bürgerliche Klasse brachte auch keine Staatsmänner aus ihren Reihen auf, die ihre Geschäfte besorgt hätten: sie vertraute ihre Interessen dem Junker Bismarck an, der — nach seinem eigenen Worte seine Aufgabe darin erblickte, Millionäre zu züchten. Die Millionäre symbolisieren die bürgerlich-kapitalistische Autorität.

So kommt die bürgerliche KIasse sobald sie erst Macht über den Feudalismus gewonnen hat, zu einer Staatsordnung nach ihrem Bedarf, in ihrem Interesse, zu ihrem Nutzen. Ihre Wünsche sind massgebend, ihre Stellung entscheidet. Denn sie ist Autorität. Ihr Staat ist ein autoritärer Staat. In der kapitalistischen Wirtschaft entwickeln alle Waren die Tendenz, nach dem Markte zu wandern, um dort ausgetauscht zu werden. Dieser Markt kann ein Kaufladen, ein Warenhaus, ein Jahrmarkt, eine Messe oder der Weltmarkt sein. Der Markt ist der Punkt, dem die Zentripetalkraft aller Waren zustrebt. Er ist aber auch der Punkt, von dem aus die Zentrifugalkraft alle Waren wieder auseinandertreibt, sobald sie getauscht sind, das heißt ihren kapitalistischen Zweck erfüllt haben. Heißt die Ware Geld, so heißt der Markt Börse oder Bank. Immer steht der Markt im Mittelpunkte eines nach zwei Richtungen wirkenden Prozesses. Der Markt ist das Zentrum.

Dem Bewegungsgesetze der kapitalistischen Wirtschaft entspricht, das des bürgerlichen Staates. Alle Kräfte der Verwaltung sammeln sieh in einem Punkte, erhalten dort ihre Ordre und wirken dann zentrifugal zurück. Die Bürokratie staffelt sich bis zu ihrer höchsten Spitze, dem Minister, die Heeresorganisation bis zum Generalissimus; dort wird die Entscheidung gefällt der Befehl erteilt, die Verfügung erlassen; und mit der Präzision eines mechanischen Apparats funktioniert die Organisation im Sinne der Spitze, des Zentrums bis in ihren letzten Ausläufer und ihr untorstes Organ. Nur die Zentralstehle ist selbstständig sie ist das ihn und denkt für das Ganze. Ihre Entscheidung ist definitiv, ihr ist unbedingt Folge zu leisten. Es herrscht straffe Ordnung und Disziplin.

In der Feudalzeit, wo jeder Fronhof mit seinen Hintersassen eine kleine wirtschaftliche Einheit bildete, die in sich mehr oder weniger geschlossen und auf sich selbst gestellt war, hatte die Verfügunsgewalt des Einzelnen keinen großen Spielraum. Einer saß neben dem andern und jeder war in gleichem Masse frei und sein eigener Herr. Das Organisationssystem, bei dem jeder Teil eines Ganzen seine volle Selbständigkeit geniesst, heiss Föderalismus. Der feudale Staat war also ein föderalistischer Staat gewesen.

Die Bourgeoisie hatte aus den Bedingungen ihrer kapitalistischen Wirtschaft die Einsicht gewonnen, daß der Zentralismus depm Föderalismus vielfach überlegen war. Besonders insofern, als er alle verstreuten und vereinzelten Kräfte zu einem Ganzen vereinigte, sie in iemist eines einheitlichen Willens stellte und damit die Fähigkeit zu großen Aktionen gewann. Als der Kapitalist die Handwerker in der Fabrik zusammenzog, von der Hausindustrie zur Kooperation überging. diese schließlich zur Manufaktur entfaltete, durchlief er praktische Schulen des Zentralismus. Alle hierbei gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse machte die bürgerliche Klasse nun bei der Aufrichtung ihres Staatsgeftiges nutzbar. Sie brauchte einen großen einheitlichen Mechanismus, der jedem Fingerdruck an höchster Stelle gehorchte.

Einen Mechanismus, bei dem sie, die kleine Minderheit, das Hirn sein konnte, Befehle erteilend, ihren Willen durchsetzend. Und bei dem die große Masse, das Proletariat, durch straffe Ordnung und Disziplin ihrer Herrschaft unterworfen war. Diesen Mechanismus lieferte das zentralistische Organisationssystem.

Es ermöglichte am besten und sichersten die Herrschaft von Wenigen über Viele. So schuf sich die Bourgeoise ihren Staat als zentralistischen Staat.

In der kapitalistischen Wirtschaft wird die Produktion von Waren bald Massenproduktion. Die Aufnahmefähigkeit der bisherigen Märkte aber ist rasch gesättigt. Neue größere Absatzgebiete werden notwendig. Der Kapitalismus entwickelt eine Expansionskraft, die die engen Grenzen des Staates zu sprengen droht. So sucht jeder junge kapitalistische Staat durch Kriege, Eroberung koloniale Erwerbungen; usw, ein größerer Staat zu werden. Dazu bedarf es einer bestinunten geistigen und seelische Vorbereitung und Beeinflussung der Staatsbürger. Einer bestimmten Ideologie, die den Drang nach Erweiterung und Ausdehnung im Interesse des Profits als Ausdruck ideeller Kräfte und Bedürfnisse deutet und kriegerische Eroberungen in Leistungen für das Gesamtwohl umlügt. Diese Ideologie erfindet den Begriff Nation, macht sich Heimats- und Vaterlandsgefühle zu Nutze und missbraucht sie für klassenegoistische Bereicherungszwecke. Sie operiert mit nationaler Interesse ("Belangen"), nationaler Ehre, nationalen Pflichten und nationaler Verantwortung solange, bis sie beim nationalen Kriege angelangt ist, der in einem Krieg der nationalen Verteidigung umgefälscht wird. Um den Krieg zu führen hat man sich eine nationale Armee zugelegt, die Schulen zu Stätten nationaler Verhetzung gemacht, in nationalen Parteien eine besondere nationale Phraseologie kultiviert, die jedem auch noch so offenkundigen Raub- und Eroberungskriege die erforderliche intellektuelle und moralische Rechtfertigung liefert.

Wenn die SPD von 1914 bis 1918 den Weltkrieg als nationalen Krieg verteidigte, die KPD während des Ruhreinfalles an der Seite Schlageters die nationale Verteidigung des Ruhrgebietes mit unterstützte, so bewiesen beide Parteien ihren Charakter als nationale Hilfsorgane des bürgerlichen Staates, der immer ein nationaler Staat ist.

Die kapitalistische Wirtschaft hat sich, ist sie erst in das Stadium dem Großbetriebe und darüber hinaus der Bildung von Aktiengesellschaften eingetreten, einen komplizierten, für ihre Bedürfuisse sehr zweckmäßigen Verwaltungsapparat geschaffen. In ihm sind alle Kräfte gut gegeneinander ausgewogen, alle Funktionen klug verteilt, alle Einzelwirkungen zu einer exakten Gesamtwirkung verbunden. Die Technik der Maschine ist sein Vorbild.

In grossen Zügen sieht der Verwaltungsaufbau eines modernen Grossbetriebes so aus: Nominelle Besitzer und damit tatsächliche Interessenten, also die eigentlichen Nutzniesser des kapitalistischen Großbetriebes, sind die Aktionäre. Diese finden sich zusammen in der Aktionär-Versammlung die wichtige Beschlüsse faßt, Kontrolle ausübt, Berichte einfordert, Entlastungen erteilt, die Beamtenschaft anstellt und die Gehälter bewilligt. Aus der Aktionärversammlung geht der Aufsichtsrat hervor, der die Verwaltung überwacht, letzte Entscheidungen trifft, höchste Instanz in allen lebenswichtigen Fragen des Werkes darstellt, aber doch der Aktionärversammlung gegenüber verantwortlich ist.

Ein Abbild dieser großindustriellen Verrwaltungsmaschinerie ist der bürgerliche Staat. Da sitzen im Parlament die Mandatsträger der Wählerschaft, eine grosse Versammlung von stimmberechtigten Aktionären, die beratend und beschliessend mit wichtigen Befugnissen ausgestattet über das Wohl und Wehe des Staatsganzen entscheiden. Aus ihrer Mitte geht der Aufsichtsrat hervor, das Regierungskabinett, das den Auftrag hat, im Besonderen und mit erhöhter Wachsamkeit die Interessen wahrzunehmen, denen die Tätigkeit der Staatsmachinerie dient. Die Kabinettsmitglieder (Minister) repräsentieren den Staat als dessen höchste Spitze, sie überwachen die Arbeit der ihnen unterstellten Verwaltungsbürokratie, stellen die großzügigen Verbindungen mit den Konkurrenzfinnen des Auslands, das heißt den kapitalistischen Auslandsstaaten her, bleiben aber immer vom Parlament abhängig und ihm verantwortlich; von ihm werden sie ernannt und zurückgerufen.

Wie in der Versammlung der Aktionäre, so gelangen auch im Parlament oft Fragen und Vorlagen zur Erledigung und Verabschiedung, die bereits fix und fertig vorliegen und nur zum Schein die Abstimmung passieren. Sie sind au anderer Stelle, deren Gewicht das Votum der Aktionärversammlung oder des Parlaments mehr oder weniger stark beherrscht, schon erledigt und entschieden worden. Diese andere Stelle ist identisch mit den Kontoren der grossen Banken oder der Industriekapitäne. Hier, wo die wichtigsten Entscheidungen der kapitalistischen Wirtschaft fallen, werden auch die entscheidenden Beschlüsse der bürgerlichen Politik gefaßt. Und zwar von denselben Personen in derselben Sache. Denn Politik ist nichts anderes als Kampf um die rechtliche Wahrung der Wirtschaftsinteressen. Ist die Verfechtung des Profits mit den Waffen von Gesetzesparagraphen die Sicherung des kapitalistischen Ausbeutungssystems mit den Mitteln der Staatsgewalt.

Mit Unermüdlichkeit und Eifer hat die Bourgeoisie am Ausbau ihrer Staatsform und an der Entfaltung ihrer Gesetzgebung gearbeitet. Ihre zuverläßlichste Hilfsmaschine fand sie dabei im Parlament, das wiederum seine Hilfsorgane in den Parteien fand. Heute, auf dem höchsten Spitze der kapitalistischen Entwicklung angelangt, empfindet das Großkapital die Parlaments und Parteimacht als lästig. Es entzieht sieh ihm durch Ermächtigungsgesetze, Militärdiktatur und Verschiebung wichtiger Kompetenzen in anderen Körperschaften in denen die Vertreten des Kapitals Wirtschaftskonzerne die Übermacht haben (Reichswirtschaft). Man verhelt heute in großkapitalistischen Kreisen gar nicht mehr die offene Feindschaft gegen Parlament und Parlamentarismus, ja man erörtert ohne Scheu in voller Öffentlichkeit die gegen Parlament und parlamentarische Regierung gerichteten Anschläge. Der Mohr Parlament hat seine Schuldigkeit getan. Als der Gedanke eines Direktoriums im bonapartistischen Sinne erwogen wurde, war Herr Minoux als oberster Gewalthaber ausersehen. Herr Minoux - der Generaldirektor von Stinnes.


IV. Parlament und Parteien

Die Gesetzgebung richtet sich in ihrem Charakter, ihrem Inhalt, ihren Resultaten stets nach den Wirtschaftsinteressen der betreffenden Zeit, und war nach den maßgebenden Wirtschaftsinteressen der vorherrschenden Klasse. Diese Klasse ist in der bügerlichen Epoche der Bourgeoisie. Also bekam das Parlament die Aufgabe, alte Gesetze nach den Bedürfnissen der Bourgeoisie zu revidieren oder außer Kraft zu setzen, durch neue Gesetze den Aufgaben der Zeit gerecht zu werden.

Im letzten Abschnitt der feudalen Epoche hatte es auch schon eine Art Parlament gegeben: die Ständeversammlung. Der Fürst hatte im Kampfe mit den Ständen — zunächst dem Adel, später besonders der Finanz- und Handelswelt, auf deren materielle Hilfe er angewiesen war — Vertreter der Verschiedenen Erwerbs- und Berufsstände ausgewählt oder ausgelöst und zu einer Körperschaft zusammengezogen. Aber diese Körperschaft hatte nur Wünsche auszusprechen. Vorschläge zu machen, Gutachten abzugeben: Gesetze selbst zu beschliessen und zu erlassen, war diese Ständeversammlung nicht kompetent. Schliesslich war zur Ständeversammlung teilweise noch eine zweite Körperschaft hinzugetreten, die mehr aus dem Volke kam und manchmal schon aus Wahlen hervorging, sodaß man eine erste une eine zweite Kammer unterschied (Herrenhaus und Abgeordnetenhaus). Immer aber waren dies Kompetenzen beider Kammern durch die fürstliche Gewalt sehr eingeschränkt. Wirkliche Parlamente mit allen Gesetzgeberischer Kraft aus offentlichen Wahlen hervorgegangen bildeten überall erst die Errungenschaft der bürgerlichen Revolution.

Die bürgerliche Klasse vertrat, wie wir wissen, in ihrer staatspolitischen ldeologie das Prinzip der Demokratie. Sie war also für Freiheit und Gleichheit. Aber nut für die Freiheit, die sie meinte, nämlich soweit sie für die Bedürfnisse ihrer Profitwirtschaft in Betracht kam, und nur für die Gleichheit, die sich durch Paragraphen auf dem Papier ausdrücken liess, ohne durch die Gleichheit der sozialen Umstände bestätigt und realisiert zu sein. Die Freiheit und Gleichheit dem Proletariat gegenüber zu respektieren und bestätigen, fiel ihr nicht im Traume ein, noch weniger liess sie ihm gegenüber den Grundsatz der Brüderlichkeit gelten.

Dabei ist die bürgerliche Gesellschaft durchaus keine einheitliche Klasse. Vielmehr birgt sie in sich eine Menge von Schichten, Gruppen und Erwerbskategorien, und infolgedessen, eine Menge verschiedener Wirtschaftsinteressen. Der Grosshändler hat andere Interessen als der Klein-Händler, der Hausbesitzer andere als der Mieter, der Kaufmann andere als den Bauer, der Käufer andere als der Verkäufer. All die verschiedenen Gruppen und Kategorien aber wollen und sollten in der Gesetzgebung berücksichtigt werden. Sie hatte um so mehr Aussicht auf Berücksichtigung, je größer die Zahl der Vertreter ihrer Interessen im Parlament sein würde. Deshalb suchte jede Schicht oder Gruppe bei Parlamentswahlen möglichst viele Wählerstimmen auf ihre Kandidaten zu vereinigen. Um ihrer Agitation Nachdruck und Dauer zu verleihen, schlossen sie sich zu Wahlvereinigungen zusammen, aus denen mit festeren Organen und zielbewußteren Programmen die Parteien hervorgingen. Wie sich diese Parteien auch nannten, welche Programme sie aufstellten, für hohe und heilige Güter sich einsetzten, welch schöne Phrasen und Schlagworte sie benutzten — immer galt ihr Kampf, indem er politischen Einfluß erstrebte, ganz bestimmenten Wirtschaftsinteressen. So bildete die konservative Partei, die die altüberkommene Staatsform, Machtverteilung und Ideologie bewahrt (das heisst konserviert) wissen wollte, den Sammelpunkt der feudalen Grossgrundbesitzerkaste. Die am Nationalstaat interessierten Grossindustriellen, die dem Liberalismus der kapitalistischen Ära huldigten, bildeten die Partei der Nationalliberalen. Die Kleinbürger, denen die Gesinnungsfreiheit und Rechtsgleicheit erstrebens- und dankenswerte Errungenschaften schienen, fanden sich in den demokratischen und freisinnigen Parteien.

Die Arbeiterschaft hatte zunächst keine eigene Partei, denn sie hatte noch nicht begriffen, daß sie eine eigene Klasse mit eigenen Interessen und politischen Zielen darstellt. So hieß sie sich von den Demokraten oder Liberalen, ja selbst Konservativen einfangen, und bildete getreulich das Stimmvieh für die bürgerlichen Parteien. In dem Maß jedoch, in dem das Klassenbewußtsein der Arbeiter wachgerüttelt wurde und erstarkte, gingen sie dazu über eigene Parteien zu bilden und eigene Vertreter ins Parlament zu entsenden, mit dem Auftrage eim Auf- und Ausbau des bürgerlichen Staates für die Arbeiterklasse möglichst viele und große Vorteile zu sichern. So sind im Erfurter Programm der Sozialdemokratischen Partei neben dem großen revolutionären Endziel die vielen praktischen Forderungen der Bewegung niedergelegt, die sich im Parlament auslebte und um die unmittelbare Gegenwart eingestellt war. Diese Forderungen hatten mit Sozialismus nichts zu tun, sondern entstammten meist bürgerlichen Programmen; nur waren sie von bürgerlichen Parteien nicht durchgeführt, ja nicht einmal ernstlich gewollt worden. Es ist nicht zu leugnen, daß die Vertreter der Sozialdemokratie fleißige und redlich gewollte im Parlament geleistet haben. Aber ihre Wirksamkeit wie deren Erfolg blieben begrenzt. Denn das Parlament ist ein Instrument bürgerlicher Politik, an die bürgerliche Methode, Politik zu machen, gebunden, und bürgerlich auch in seinem Effekt. Der letzte und eigentliche Gewinn des Parlamentarismus fällt dem Bürgertum zu.

Die bürgerliche, das heisst parlamentarische Methode, Politik zu treiben, hängt mit der bürgerlichen Methode, Wirtschaft zur treiben, eng zusammen. Diese Methode heisst: handeln und verhandeln. Wie der Bourgeois in Leben und Kontor, auf Markt und Messe, in Bank und Börse Waren und Warenwerte handelt und verhandelt, so handelt und verhandelt er auch im Parlament um die Sanktionen und Rechtsmittel für die erhandeltem Geld- und Sachwerte. Die Vertreter jeder Partei suchen im Parlament möglichst viel aus der Gesetzgebung für ihre Auftraggeber, ihre Interessentengruppe, ihre "Firma" herauszuschlagen. Sie stehen auch in ständiger Fühlung mit ihren lndustriellenverbänden, Unternehmervereinigungen, Kartellen Standesorganisationen oder Gewerkschaften, und von ihnen Weisungen, Informationen-Verhaltungsmaßregeln oder Aufträge zu empfangen. Sie sind die Unterhändler, die Delegierten, und das Geschäft wird gemacht durch Reden, Feilschen, Schachern, Verhandeln, Überlisten, Abstimmungsmanöver, Kompromisse. Die parlamentarische Hauptarbeit wird denn auch nicht in den großen Parlamentsverhandlungen, die nur eine Art Schaustellung sind, sondern in den Kommissionen geleistet, die unter Ausschluß der Öffentlichkeit und ohne die Maske der konventionellen Lüge tagen.

Hatte in der vorrevolutionären Zeit das Parlament auch für die Arbeiterklasse seine Berechtigung, indem es das Mittel bildete, ihre politische und wirtschaftliche Vorteile zu sichern, je nach dem Kräfteverhältnis, das geltend gemacht werden konnte, so war diese Berechtigung null und nichtig in dem Augenblicke, in dem das Proletariat sich als revolutionäre Klasse erhob und seine Ansprüche auf Übernahme der gesamte im Staats- und Wirtschaftsmacht anmeldete. Jetzt gab es kein Verhandeln mehr, kein Fürliebnehmen mit größeren oder kleineren Vorteilen, keine Kompromisse — jetzt ging es ums Ganze. Die erste revolutionäre Leistung des Proletariats hätte folgerichtig die Beseitigung der Parlamente sein müssen. Aber es konnte diese Leistung nicht vollbringen, weil es selbst noch in Parteien organisiert, also in Organisationelle gebunden war, die im Grunde bürgerlichen Charakters und infolgedessen unfähig sind, bürgerliches Wesen, das heißt bürgerliche Politik, Wirtschaft, Staatsordnung, Ideologie zu überwinden. Eine Partei braucht das Parlament und den Parlamentarismus, wie das Parlament die Parteien braucht. Eins bedingt das andere, stützt und hält sich gegenseitig. Die Aufrechterhaltung bedeutet die Aufrechterhaltung des Parlaments und damit Aufrechterhaltung der bürgerlichen Macht.

Nach dem Vorbilde des bürgerlichen Staates und seiner Institutionen ist auch die Partei autoritär zentralistisch organisiert. Alle Bewegung in ihr geht in Form des Kommandos von der Spitze des Zentralvorstandes bis zur breiten Basis der Mitgliedschaften. Unten die Masse der Mitglieder, darüber die Staffel der Angestellten des Ortes, des Bezirkes, des Landes, des Reiches. Die Parteisekretäre sind die Unteroffiziere, die Abgeordneten die Offiziere. Sie erteilen die Kommandos, geben die Parolen aus, machen die Politik, sind die hohen Würdenträger. Der Parteiapparat, in Gestalt von Büros, Zeitungen, Kassen, Mandaten gibt ihnen Verfügungsgewalt über die Masse der Mitglieder, der sich keiner entziehen kann. Die Beamten der Zentrale sind sozusagen die Parteiminister, sie erlassen Verordnungen und Verfügungen, legen die Beschlüsse der Parteitage und Konferenzen aus, treffen Bestimmungen über die Verwendung der Gelder, verteilen die Stellen und Ämter nach dem Modus ihrer Personalpolitik. Wohl soll der Parteitag höchste Instanz sein, aber seine Zusammensetzung, Tagung, Beschlußfassung und die Auswertung seiner Beschlüsse, sind durchaus in die Hände der obersten Parteimachthaber gelegt und der für den Zentralismus typische Kadavorgehorsam, der hier Parteidisziplin heißt, sorgt für die nötige Resonanz der Subordination.

Eine Partei mit revolutionärem Charakter im proletarischen Sinne ist ein Unding. Sie kann nur revolutionären Charakter im bürgerlichen Sinne haben und da nur an der Wende zwischen Feudalismus und Kapitalismus. Also im Intesse des Bürgertums. An der Wende zwischen Kapitalismus und Sozialismus muß sie versagen, dies um so mehr, je revolutionärer sie sich in der Theorie und Phraseologie gebärdet hat. Als 1914 der Weltltrieg ausbrach, daß heißt als die Bourgeoisie der ganzen Welt dem Proletariat der ganzen Welt den Kampf ansagte, hätte die Sozialdemokratische Partei mit der Revolution des Proletariats der ganzen Welt gegen die Bourgeoisie der ganzen Welt antworten müssen.

Aber sie versagte, warf die Larve des Wortrevolutionärismus ab und machte bürgerliche Politik auf der ganzen Line. Die USP hätte beim Abschluß des Friedensvertrages von Versailles zur Revolution aufrufen müssen. Ihr bürgerliches Wesen aber zwang sie statt zu östlicher, zu westlicher Orientierung, sie agitierte für Unterschreiben und Unterwerfung. Auch die KPD, so hyperradikal sie sich aufspielt, ist in jeder entscheidenden Frage durch ihren bürgerlich-zentralistisch-autoritären Charakter genötigt, sobald es ans handeln geht, den bürgerlichen Politikern Gefolgschaft zu leisten. Sie sitzt im Parlament und macht bürgerliche Politik, sie verhandelte im Ruhrgebiet 1920 mit dem bürgerlichen Militär, sie kämpfte an der Seite von Stinnes bei der Ruhraktion gegen Frankreich mit dem Mittel des passiven Widerstandes, sie verfällt dem Kult des bürgerlichen Nationalismus und verbrüdert sich mit Faschisten, sie drängt sich in bürgerliche Regierungen, um von dort aus die kapitalistische Aufbaupolitik Rußlands fördern zu helfen. Überall — bürgerliche Politik, durchgeführt mit typisch bürgerlichen Mitteln. Wenn die SPD sagt, sie wolle keine Revolution, so liegt darin eine Logik, weil sie als Partei niemals eine proletarische Revolution durchführen kann. Wenn aber die KPD sagt, sie wolle die Revolution, so übernimmt sie sich in ihrem Programm weit über ihre Leistungsfähigkeit hinaus, sei es aus Unkenntnis ihres bürgerlichen Charakters, sei es aus betrügerischer Demagogie.

Jede bürgerliche Organisation ist im Grunde eine Verwaltungsorganisation, die, um zu funktionieren, einer Bürokratie bedarf. Auch die Partei. Sie ist auf die Verwaltungsmaschine, bedient durch ein besoldetes Berufsfürertum, angewiesen. Die Führer sind Verwaltungebeamte und als solche Angehörige einer bürgerlichen Kategorie — Führer, das heißt Beamte, sind Kleinbürger, keine Proletarier. Die meisten Partei- und Gewerkschaftsführer waren einmal Arbeiter, vielleicht die tüchtigsten und revolutionärsten. Aber indem sie Beamte, das heißt Geschäftsführer, Geschäftsträger, Geschäftsmacher wurden, lernten sie handeln und verhandeln, mit Akten und Kasse umgehen, übernahmen sie Mandate, begannen sie in dem großen bürgerlichen Organismus, mit Hilfe ihres Organisationsapparates zu wirken,

Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er Post-, Steuer-, Gemeinde und Staatsbeamten, sowohl im Dienst wie in seinem häuslichen Milieu. Der Beamte ist für korrekte Geschäftsführung, peinliche Ordnung, glatte Abwicklung der Obliegenheiten, er haßt Störungen, Reibungen, Konflikte. Nichts ist ihm so zuwider, wie das Chaos, darum sträubt er sich gegen jede Unordnung, bekämpft er die Eigenmächtigkeit und Selbständigkeit der Massen, fürchtet er die Revolution.

Aber die Revolution kommt. Plötzlich ist sie da und reckt sich hoch. Alles wird erschüttert, alles Unterste zu oberst gekehrt. Die Arbeiterschaft steht auf der Straße und drängt zur Aktion. Sie macht sich daran, das Bürgertum niederzuwerfen, den Staat zu zertrümmern, sich der Wirtschaft zu bemächtigen. Da packt den Beamten eine ungeheure Angst. Um Gottes Willen, die Ordnung soll in Unordnung, die Ruhe in Unruhe, die korrekte Geschäftsführung in ein Chaos verwandelt werden? Das gibt es nicht! So warnte noch am 8. November 1918 der Vorwärts vor "gewissenlosen Hetzern", die "von Revolution phantasierten", so bekämpfte das Korrespondenzblatt der Gewerkschaften die "unverantwortlichen Abenteurer" und "Putschisten", so schickte die Reichstagsfraktion Scheidemann noch in letzter Stunde bis Wilhelminische Kabinett, damit "das größte Unglück —die Revolution — vermieden werde." Und wo während der Revolution immer Arbeiter zur, Aktion übergehen wollten, jedesmal sprangen ihnen Partei- und Gewerkschaftsbeamte entgegen mit dem Rufe: "Nicht zu stürmisch! Kein Blutvergiessen! Seid vereinigt! Laßt uns verhandeln!"

Indem man zum Verhandeln überging, anstatt der Gegner zu packen und zu Boden zu werfen, war die Bourgeoisie gerettet, Verhandeln ist ja ihre Methode, Politik zu machen, und auf ihrem Kampfboden ist sie am sichersten. Im Hause der Bourgeoisie und mit den Mitteln der Bourgeoisie proletarische Politik machen, zu wollen, heißt, sich an die Tafel der Kapitalisten setzen, mit ihnen speisen und trinken und die Interessen des Proletariats verraten. Der Verrat an den Massen — von der SPD bis zur äußersten KPD — braucht sich nicht aus schuftiger Gesinnung zu ergeben, er ist einfach die Konsequenz des bürgerlichen Wesens jeder Partei- und Gewerkschaftsorganisation. Die Führer dieser Partei und Gewerkschaft sind eben Geist vom Geist der bürgerlichen Klasse, Fleisch vom Fleisch der bürgerlischen Gesellschaft.

Aber die bürgerliche Gesellschaft geht zugrunde. Sie verfällt immer mehr der Zerrüttung und Verwesung. Die Gesetzgebung wird verlacht und verhöhnt vom Bürgertum selbst. Wucher- und Devisengesetze werden erlassen, und kein Teufel fragt nach ihnen. Alles, was vor kurzem noch als heilig galt, Kirche, Moral, Ehe, Schule, öffentliche Meinung, ist entlarvt, besudelt, ein Spott geworden, zur Fratze verzerrt. In einer solchen Zeit kann auch die Partei nicht Anger bestehen bleiben; als ein Glied der bürgerlichen Gesellschaft geht sie mit dieser zugrunde. Es wäre Quacksalborei, die Hand‚ vor dem Tode bewahren zu wollen, wenn der Körper im Sterben liegt. Daher die unablässige Kette der Parteizerspaltungen, Zerlittungen, Auflösungen, des Parteizusammenbruches, den kein Parteivorstand, kein Parteitag, keine zweite oder dritte Internationale, kein Kautsky und kein Lenin mehr aufhalten kann. Die Stunde der Parteien ist gekommen, wie die Stunde der bürgerlichen Gesellschaft gekommen ist. Sie werden sich noch halten, wie sich auch Innungen und Zünfte, aus dem Mittelalter bis heute gehalten haben: als zubeilebte Institutionen ohne geschichtsbildende Kraft. Eine Partei wie die SPD die alle Errungenschaften der November-Erhebung kampflos wieder preisgab, ja teilweise, geflissentlich in die Hände der Konterrevolution spielte, mit der sie verbündet ist und in Regierungen sitzt, hat jede Existenzberechtigung verloren. Und eine Partei wie die KPD, die nur eine westeuropäische Filiale von Turkestan ist und ohne die reichen Zuschüsse Moskaus sich nicht ein paar Wochen aus eigener Kraft erhalten könnte, hat diese Existenzberechtigung nie besessen. Das Proletariat wird über beide hinweggehen, unbekümmert um Parteidisziplin und Bonzengeschrei, Resolutionen und Kongreßbeschlüsse. In der Stunde des Unterganges wird es sich retten aus der Verstrickung durch die Polypenarme bürgerlicher Organisationsgewalt.

Es wird seine Sache selbst in die Hand nehmen.


V. Die Gewerkschaften


Was über Parteien, Parteiführer und Parteitaktik gesagt ist, trifft in erhöhtem Maße auch auf die Gewerkschaften zu. Ja, sie repräsentieren die typisch kleinbürgerliche Taktik des Kompromisses um soviel mehr, als ihre eigene Existenz ein Kompromiß zwischen Arbeit und Kapital darstellt. Niemals haben Gewerkschaften als ihr Ziel und ihre Aufgabe die Beseitigung des Kapitalismus proklamiert; niemals haben sie sich praktisch irgendwie dafür eingesetzt. Von Anfang an haben die Gewerkschaften mit der Existenz des Kapitalismus als einer gegebenen Tatsache gerechnet. Und von dieser Gegebenheit aus sind sie dafür eingetreten im Rahmen der kapitalistisch en Wirtschaftsordnung dem Proletarier bessere Lohn- und- Arbeitsverhältnisse zu erkämpfen. Also keine Abschaffung des Lohnsystems, keine grundsätzliche Ablehnung der kapitalistischen Wirtschaft, kein Kampf gegen du Ganze. Das sei, so sagten die Gewerkschaften mit bürgerlicher Logik, Sache der politischen Partei. Darum erkIärten sie sich für unpolitisch, pochten auf ihre Neutralität, lehnten jede Parteiverpflichtung ab. Ihre Rolle war die eines Ausgleichs, einer Vermittelung, einer Kur an Symptomen, einer Verabreichung von Palliativmitteln. Sie waren von Haus aus ihrer ganzen Grundeinstellung nach nicht nur unpolitisch, sondern auch unrevolutionär; sie waren reformistische, opportunistische, kompromißlerliche Hilforgane zwischen Bourgeoisie und Proletariat.

Die Gewerkschaften gingen aus den Gesellenverbänden der alten Handwerksinnungen hervor. Mit dem Geiste der modernen Arbeiterbewegung wurden sie gefüllt, als der Kapitalismus durch die große Krise der sechziger Jahre dem Proletariat die Tücken -und Schrecken seines Systems mit besonderer Härte zum Bewußtsein brachte. Unter diesem ökonomischen Drucke, der die Arbeiterbewegung in ganz Europa mächtig anschwellen ließ, kam der von Schweitzer und Fritzsche einberufene erste Gewerkschaftskongreß 1868 zustande. Fritzsche charakterisierte die gewerkschaftliche Organisation und ihre Gelegenheiten sehr treffend, als er erklärte, "daß die Streiks kein Mittel seien, die Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise zu ändern, wohl aber ein Mittel, das Klassenbewußtsein der Arbeiter zu fördern, die Polizeibevormundung zu durchbrechen und einzelne soziale Mißstände drückender Art, wie übermäßig lange Arbeitszeit und Sonntagsarbeit, aus der heutigen Gesellschaft zu entfernen". In der Folgezeit hat dann auch die Tätigkeit der Gewerkschaften darin bestanden, das Proletariat aufzurütteln, zum Zusammenschluß zu bewegen, für den Gedanken des Klassenkampfes zu gewinnen, es gegen die schlimmsten Härten der kapitalistischen Ausbeutung zu schützen und ihm nach Möglichkeit aus dem Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit je nach Konjunktur größere oder kleinere Augenblicksvorteile herauszuholen. Der Unternehmer, ehedem allmächtiger Herr im Hause, hatte bald die straff zentralisierte Macht der Organisation gegen sich. Und die Arbeiterschaft, durch den Zusammenschluß im Bewußtsein ihres Wertes für den Produktionsprozeß gehoben und von Streik zu Streik, von Konflikt zu Konflikt In der Entfaltung ihrer Kampfesenergie geschult, stellte bald einen Faktor dar, mit dem der Kapitalismus bei allen Profitkalkulationen ernstlich rechnen mußte.

Niemals kann im Ernst daran gedacht werden, den großen Wert zu leugnen, den die Gewerkschaften als Kampfmittel bei der Verfechtung von Arbeiterinteressen für das Proletariat gehabt haben: niemand wird wagen können, die außerordentlichen Verdienste zu schmälern oder zu bestreiten, die sich die Gewerkschaften bei der Verfechtung dieser Interessen erworben haben. Aber alles dies sind heute leider Zeugnisse und Ruhmestitel, die der Vergangenheit angehören.

Im Kampfe zwischen Kapital und Arbeit haben auch die Unternehmer sehr bald den Wert der Organisation erkannt. Um den Arbeiterverbänden die Spitze bieten zu können, haben sie sich selbst zu kraftvollen, zunächst die Berufskategorie oder Branche umfassenden Verbänden zusammengeschlossen. Und da sie über reichere Mittel verfügten, den Schutz und die Förderung der Behörden auf Ihrer Seite hatten die Gesetzgebung und Rechtsprechung zu beeinflußen verstanden und solchen Unternehmern, die ihre Klasseninteressen nicht rasch genug begriffen und deshalb der Organisation nicht das erforderliche Interesse abgewannen, mit den stärksten Mitteln des Terrors, der Drangsalierung und Ächtung zu Leibe gingen, waren ihre Organisationen bald stärker, leistungsfähiger und mächtiger als die der Arbeiter.

Die Gewerkschaften sahen sich durch die Unternehmerverbände aus der Offensive in die Defensive verdrängt. Die Kämpfe nahmen an Heftigkeit, Erbitterung und Druck zu, waren immer seltener erfolgreich, hatten meist eine große Erschöpfung der Zentralkasse zur Folge und nötigten dadurch zu immer längeren Ruhe- und Erholungepausen zwischen den Kämpfen. Schließlich erkannte man, daß die halben und fragilichen Erfolge meist zu teuer erkauft waren, daß man die Kompromisse, die bestenfalls aus den Kraftproben heraussprangen, billiger hätte haben können, wenn man von vornherein mehr zu einer Verständigung bereit gewesen wäre. So ging man an die weiteren Kämpfe heran mit reduzierten Forderungen, mit Bereitschaft zu Verhandlungen, mit der Absicht zu einem Kuhhandel. Anstatt gegeneinander anzukämpfen, suchte man sich gegenseitig zu überlisten. Es galt nicht mehr als Makel oder Schwäche, Verhandlungen anzubieten. Man war auf den Kompromiß eingestellt. Der Vergleich — nicht der Sieg — bildete in der Regel den Abschluß von Lohnbewegungen oder Arbeitszeitkonflikten. So vollzog sich mit der Zeit auf der ganzen Linie eine Änderung der Taktik, der Kampfmethode.

Die Tarifpolitik kam auf. Auf der Grundlage von Verabredungen und Vereinbarungen wurden Tarifverträge abgeschlossen, in denen die Arbeitsbedingungen ihre paragraphische Regelung fanden. Die Tarife galten für die ganze Organisation der Branche beiderseits und für kürzere oder längere Zeit. Sie stellten in Gestalt eines Kompromisses eine Art Waffenstillstand auf Kündigung dar. Der Unternehmer gewann durch den Abschluß von Tarifverträgen bedeutsame Vorteile: er konnte sichere Geschäftskalkulationen für die Dauer des Vertrages aufstellen, konnte auf Einhaltung der Vertragsbestimmungen bei bürgerlichen Gerichten klagen, konnte mit einer gewissen Stabilität seiner Geschäftsführung und Profitquote rechnen, konnte vor allen Dingen in größter Ruhe jahrelang seine Kräfte konzentrieren für einen um so stärkeren Druck auf die Arbeiterschaft beim Abschluß des nächsten Tarifvertrages. Im Gegensatz zum Unternehmer hatte der Arbeiter vom Tarifvertrag nur Nachteile: er konnte, an den Vertrag auf lange Zeit gebünden, aufkommende günstige Konjunkturen nicht zu Verbesserungen seiner Lage ausnutzen, wurde in seinem Klassenbewußtsein und Kampf willen mit der Länge der Zeit eingeschläfert und zur Inaktivität erzogen, geriet damit immer mehr in die für den Klassenkampf verderbliche Atmosphäre der "Harmonie zwischen Kapital und Arbeit" und "Gemeinsamkeit der Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer", verfiel so ganz und gar dem kleinbürgerlich hoffnungslosen Opportunismus, der von der Hand in den Mund lebt und selbst die größtmöglichen Reformen und "positiven Errungenschaften" je länger je mehr fragwürdig und wertlos macht, und wurde zuletzt völlig daß betrogene Opfer einer engstirnigen, beschränkten und oft gewissenlosen Beamten- und Führerclique, deren Hauptinteresse schon längst nicht mehr dem Wohl des Arbeiters, sondern der Befestigung ihres Versorgungspostens gehört. In der Tat schlief mit dem Überhandnehmen der Tarifpolitik die Anteilnahme des Arbeiters am Gewerkschaftsleben immer mehr ein; die Versammlungen waren schlecht besucht, die Beteiligung bei Wahlen ging stark zurück, die Beiträge mußten fast gewaltsam eingetrieben werden, der Terror in den Betrieben nahm ebenso überhand wie die Bürokratisierung des Verwaltungsapparates, beides Mittel um den Bestand der Organisation, die Selbstzweck geworden war, um jeden Preis zu erhalten. Die Schaffung von Reichstarifen für große Arbeiteskategorien bewirkte noch mehr die Steigerung des Zentralismus und der Beamtengewalt, zugleich aber auch immer größere Ablösung der Führer von den Massen, größere Entfremdung der Organisation von ihrem ursprünglichen Kampfcharakter und Kampf ziel und größere Degradation der Arbeiter zu bedeutungs- und willenlosen, lediglich beitragzahlenden und beschlüsseansführenden Marionetten in den Händen der Verbandebürokratie.

Dazu kam noch ein Moment. Um den Arbeiter mit all seinen Interessen, die seiner permanenten Lebensnotlage entspringen an die Organisation zu fesseln, haben die Gewerkschaften ein umfangreiches und verzweigtes Unterstützungssystem eingerichtet, das eine Art praktische Sozialpolitik betreibt. Wie es scheint, zum Nutzen des Arbeiters, sicher auf dessen Kosten. Da gibt es Kranken-, Sterbe-, Arbeitslosen, Umzugs- und Reise-Unterstützungskassen, einen ganzen Apparat sozialer Fürsorge mit Pflästerchen, Pulverchen und allerlei Linderungsmittelchen für das proletarische Elend. Der Arbeiter steuert und klebt, zahlt Beiträge über Beiträge, wird an der Leistungsfähigkeit der Verbandskasse interessiert und wartet auf die Gelegenheit, wo er ihre Hilfe in Anspruch nehmen kann. Anstatt an den großen Kampf zu denken, verliert er sich In Rechnungen mit kleinen Pfennigen. Er wird in seiner kleinbürgerlichen Denkweise bestärkt und erhalten; bleibt zum Nachteil seiner proletarischen Emanzipation stecken in den Befangenheiten und Engherzigkeiten kleinbürgerlicher Lebensauffassung, die bei jeder Leistung nach der

Gegenleistung fragt; gewöhnt sich, den Wert der Organisation zu sehen in den zufälligen und dürftigen materiellen Augenblicksvorteilen, anstatt den Blick auf das große, freigewollte und selbstlos verfochtene Ziel der Befreiung seiner Klasse gerichtet zu halten. Damit wird der Klassenkampfcharakter der Organisation planvoll untergraben und das Klassenbewußtsein der Proletarier unwiederbringlich zerstört oder verwüstet. Obendrein werden dem atmen Teufel die Kosten einer sozialen Fürsorge und Wohlfahrtapflege aufgepackt, die im Grunde der Staat aus den Mitteln der Gesamtgesellschäft unter Schonung der Wirtschaftschwahen zu bestreiten hätte.

So sind die Gewerkschaften mit der Zeit Organe kleinbürgerlicher Sozialquacksalberei geworden, deren Wert für den Arbeiter in dem Maße auf Nichts zusammengeschrumpft ist, in dem unter dem Drucke der Geldentwertung und Wirtschaftsmisere die Leistungsfähigkeit aller Wohlfahrtskassen auf Null gesunken ist. Aber mehr als dies: die Gewerkschaften haben sich, in konsequenter Weiterbildung ihrer Tendenz zur Interessengemeinschaft zwischen Kapital und Arbeit, zu Hilfsorganen des bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaftsinteresses, also der Ausbeutung mmd Profitmacherei, entwickelt, Sie sind die treuesten Schildhalter der bürgerlichen Klasse, die zuverlässigte Schutztruppe des kapitalistischen Geldsacks geworden. Bei Ausbruch des Krieges traten sie, ohne eine Minute zu zögern, für die nationale Verteidigungspflicht einmachten die bürgerliche Kriegspolitik zu der ihrigen, anerkannten den Burgfrieden, zeichneten Kriegsanleihe, predigten das Durchhaltegebot, halten das Hilfsdienstgesetz schaffen und hielten jede sabotierernde oder revoltierende Bewegung in der Waffen- und Munitionsindustrie krampfhaft nieder. Bei Ausbruch der November-Revolution deckten sie die kaiserliche Regierung, warfen sich den revolutionären Massen entgegen, verbanden sich mit dem Großunternehmertum zu einer Arbeitsgemeinschaft ließen sich mit Ämten, Würden und Einkünften in der Industrie oder im Staate bestechen, knüppelten im Verein mit Polizei und Militär alle Streiks und Aufstände nieder und verrieten so schamlos und brutal die Lebensinteressen des Proletariats an dessen verschworene Feinde. Beim Aufbau des Kapitalismus nach dem Kriege, bei der erneuten Versklavung der Massen durch das vertrustete, international versippte Kapital, bei der Stinnesierung der deutschen Wirtschaft, beim Kampfe um Oberschlesien und Ruhrgebiet, beim Abbau des Achtstundentags, der Demobilisations-Verordnungen. Der Zwangswirtschaft, bei der Beseitigung der Arbeiterräte, der Betriebskomitees, Kontroll-Ausschüsse, usw, beim Terror gegen Syndikalisten, Unionisten, Anarchisten — immer und überall standen sie als die zu jeder Gemeinheit und Schandtat bereite Prätorianergarde dem Kapital hilfreich zu Seite. Immer gegen die Interessen des Proletariats, gegen die Fortschritte der Revolution, die Befreiung und Verselbständigung der arbeitenden Klasse, verbrauchten und verbrauchen sie den übergroßen Teil aller Kasseneinkünfte zur Sicherung und materiellen Versorgung ihrer Bonzen- und Schmarotzer-Existenz, die — wie sie nur zu gut wissen — steht und fällt mit der Existenz der Gewerkschaftsorganisation, die sie aus einer Waffe für die Arbeiter in eine Waffe gegen die Arbeiter umgefälscht haben.

Diese Gewerkschaften revolutionieren zu wollen, ist ein lächerliches, weil ganz undurchführbares und aussichtsloses Beginnen. Diese "Revolutionierung" läuft entweder auf einen simplen Personenwechsel hinaus, der am System absolut, nichts ändert, sondern höchstens den Pestherd verbreitert, oder aber sie muß darin bestehen, daß man den Gewerkschaften den Zentralismus, die Tarifpolitik, das Berufsführertum, die Unterstützungskassen, den Kompromißgeist fortnimmt — was bleibt dann übrig? Ein hohles Nichts!

Solange die Gewerkschaften noch bestehen, werden sie bleiben was sie sind: die echtesten und tüchtigsten aller Weißen Garden des Unternehmertums denen besonders das deutsche Kapital zu größerem Danke verpflichtet ist als allen Noske- und Hitlergarden zusammengenommen. Solche gemeinschäfliche, arbeiterfeindliche kontrerevolutionäre Institutionen können nur zerstört, vernichtet, ausgerottet werden.


VI. Die letzte Phase des europäischen Kapitalismus

Die deutsche Arbeiterklasse verstrickt in den Fesseln ihrer unrevolutionären Organisationen und verblendet durch die Phraseologie ihrer kleinbürgerlicben Denkweise, hat die Bourgeoisie ihres Landes in Situationen, wo es sich um Sein oder Nichtsein handelte, noch eimmal gerettet : sie hat sie auf ihren starken Schultern aus den Gefahren des Weltkrieges und der November-Revolution in Sicherheit gebracht.

Dann hat sich die Bourgeoisie wieder in den Sattel gesetzt, um frecher und brutaler als je über die Leiber und Köpfe ihrer Retter hinwegzureiten. Obwohl beladen mit unerhörten Reichtümern, die sie inzwischen erbeutet, ist sie doch voll Angst und Grausen erfaßt: sie hat dem Tod ins Auge geschaut und ganz nahe am Abgrunde ihres Unterganges gestanden.

So ist die deutsche Bourgeoisie 1924 nicht mehr die, die sie 1914 war. Denn auch der deutsche Kapitalismus ist ein anderes geworden. Er hat die nationale Phase seiner Entwicklung verlassen und ist in die internationale Phase eingetretten. Dieser Umschwung und Fortschritt hängt mit dem Ausgange des Weltkrieges zusammen.

Wenn der Weltkrieg dem Expansionsdrange aller Kapitalstaaten entsprang und das Ziel hatte, die ganze Welt unter die Diktatur eines dieser Kapitalstaaten oder Staatenkonzerne zu stellen, so war der Ausgang des Weltkrieges für die deutsche Kapitalmacht das Misslingen dieses Planes und das schmerzliche Gebot, in Zukunft auf selbständige Existenz zu verzichten und sich in den Interessenverband des Siegerkonzerns einverleiben zu lassen.

Die deutsche Kapitalmacht wird in erster Linie repräsentiert durch die Schwerindustrie. Deutschland ist reich an Kohle, aber es fehlt ihm an Erz. Darum war es schon vor Jahrzehnten das tägliche Morgen- und Abendgebet der Stinnes und Konsorten: Lieber Gott, gib uns einen siegreichen Krieg mit Frankreich, damit wir in Besitz der reichen Erztage von Briey und Longwy kommen, Wie anderseits die französischen Kapitalisten angesichts der Kohlenarmut ihres Landes sich von ihrem Herrgott die reichen Kohlenschätze des Ruhrgebiets erflehten. Erz und Kohle spielten denn auch im Weltkrieg, besonders in dem Ringen zwischen Frankreich und Deutschland — nachdem sich die Weltherrschaft für beide als Illusion erwiesen hatte — die entscheidende Rolle.

Der Vertrag von Versailles hat den französischen Kapitalisten das Saargebiet gebracht; aber sie sind unzufrieden geblieben, denn sie fordern nach wie vor das Ruhrgebiet. Die im Comité des Forges mächtig erstarkte Montan-Industrie behauptet, ihre neue wirtschaftliche Aufgabe ohne das Ruhrgebiet nicht erfüllen zu können, zumal viele ihrer Anlagen und Werke in Nordfrankreich von der deutschen Kriegsfuhrung zerstört und auf Jahre hinaus unbrauchbar gemacht worden sind. Sie hat seit 1918 die französische Regierung zum militärischen Einmarsch in das Ruhrgebiet gedrängt und dessen Besetzung schließlich durchgesetzt. Die deutsche Schwerindustrie war verzweifelt. Zwar lautete ihre Parole auch: Erz und Kohle gehören zusammen. Aber sie wollten die Erfüllung dieser Parole zu ihren Gunsten. Nun sie zugunsten des Comité des Forges geschah, rief sie die deutsche Regierung, die deutsche Nation, die ganze kochende deutsche Volksseele zum Widerstand auf. Es hat nichts genutzt, die deutsche Schwerindustrie hat sich durch Verträge dem französischen Kapital ausliefern müssen, denn Kohle will zu Erz und das größere Recht ist bei dem Stärkeren.

Aber noch eine andere Wirtschaftsmacht steht hinter den Kulissen des politischen Welttheaters das Petroleum.

Der Sieg der Entente im Weltkrieg war im letzten Grunde ein Sieg der überlegenen Waffentechnik Amerikas. Zum ersten Male triumphierte das Öl über die Kohle, denn die Beheizung der Unterseeboote und Schiffe, der Luftfahrzeuge, Automobile, Tanks, usw., erfolgte mit Öl und durch eine Technik, die in Amerika eine besonders hohe Ausbildung erfahren hatte und der gegenüber die deutsche Technik rückständig war. Nach Beendigung des Weltkrieges war es für Amerika, wollte es die errungene Vormachtstellung auf weltwirtschaftlichem Gebiete nicht wieder verlieren, das wichtigste Gebot, die Ölproduktion der Welt in seine Hände zu bringen, um auf diese Weise die Garantien seiner Überlegenheit zu monopolisieren.

Die ergiebigsten Ölfelder liegen in Kleinasien (Mossul) und gehören der Zone des englischen Protektorates an; der Weg zu ihnen führt über Europa. Das amerikanische Ölkapital hat sehr rasch begonnen, sich diesen Weg zu sichern. Es hat große französische Industrien finanziert, Banken an sich gebracht, Zeitungen aufgekauft und Einfluß in der Regierung gewonnen. Von Frankreich aus ist es vorgedrungen — gedeckt durch die Geste des französischen Staatsmannes oder das Bajonett des französischen Militärs — nach der Tschechoslowakei, Polen, Jugoslawien, Bulgarien bis zur Türkei. Der Krieg zwischen Griechenland und der Türkei, die Revolution in Bulgarien, die Konferenzen in Lausanne, die Vorgänge auf dem Balkan, die Militärkonventionen zwischen Frankreich und der kleinen Entente usw. stehen mehr oder minder in Zusammenhange mit dem unausgesetzten Bemühen des amerikanischen Ölkapitals, sich eine große Operationsbasis zu schaffen für die Auseinandersetzung, die früher oder später — im Interesse des Weltmonopols über das Öl — mit den Konkurrenten England und Rußland erfolgen muß. Wie der Öltrust seit Jahrzehnten in Mexiko an der Arbeit ist sich durch eine Kette von politischen Erschütterungen, Putschen, Revolten und Revolutionen die Herrschaft über die mexikanischen Ölfelder zu verschaffen, so läßt es auch in Europa nichts unversucht, sich der Zugänge zu den Ölgebieten Kleinasiens, gegen jeden Wettbewerb und jede Konkurrenz, zu bemächtigen.

Die einzige Lücke auf dem Wege teilte Deutschland dar. Da die Bemühungen, Süddeutschland von Norddeutschland abzulösen und unter französische Oberhoheit zu bringen, trotz der Unsummen, die zur Finanzierung der bayrischen Faschistenbewegung und Anti-Reichs-Verschwörung flüssig gemacht wurden, nicht zum Ziele führten, weil sich hier die Interessen New Yorks mit den Interessen Roms kreuzten, wandte das Ölkapital eine andere Taktik an. Es kaufte, unterstützt durch die Geldentwertung infolge der Inflation und gewisser Börsenmanöver, einen Wirtschaftskonzern nach dem andern auf und brachte so allmählich die gesamte Kapitalmacht Deutschlands unter seine Gewalt. Als der Stinneskonzern, dem die angebotene Gewinnbeteiligungsquote nicht hoch genug war, Widerstand leistete und sich seiner Überführung in die Regionen einer internationalen Ausbeutungs- Interessengemeinschaft widersetzte, griff man zur Gewalt. Die militärische Besetzung des Ruhrgebietes bedeutete ebensosehr die Erfüllung anggehegter Wünsche des Ölkapitals, wie sie eine Tat nach dem Herzen der französischen Montan-Industriellen war.

Inzwischen hat die deutsche Kapitalistenklasse erkannt, daß sie auch in der Abhängigkeit vom Entente- und Weltkapital recht gut auf ihre Rechnung zu kommen vermag. Wohl ist sie durch Verträge zu hohen Leistungen verpflichtet worden, die ihre Profitrate empfindlich verkürzen könnten; dafür aber ist ihr das deutsche Proletariat in voller Wehrlosigkeit zu schrankenloser Ausbeutung überliefert worden. Sie genießt die Vorteile der Steuerschonung unter der Gunst einer plutokratischen Steuergesetzgebung; hat alle Lasten und Fesseln abgeworfen, die, so unbedeutend sie immer sein mochten, während der letzten Jahre als Ausgleich der sozialen Gegensätze und im Interesse des Proletariats ins Werk gesetzt worden waren; vor allem ist sie wieder im Vollbesitze der reaktionären Macht, wie in ihren besten Zeiten unter dem wilhelminischen Regime. Mit Zehnstundentag, Hungerlöhnen, Goldwährungsschwindel, Belagerungszustand und Militärdiktatur hat sie sich ihre Position gesichert Deutschland ist eine Kolonie der Entente geworden. Die deutschen Arbeiter sind die versklavten Eingeborenen. Die deutschen Unternehmer stellen die privilegierte Kaste der Sklavenhalter dar, die an dem erpreßten und erschundenen Gewinn, den sie an die Hochfinanz des Auslandes abzuführen haben, so beteiligt sind, daß ihnen eine üppige Lebensführung möglich ist. Wie die wirtschaftliche, so ist auch die politische Macht völlig in die Hände des Großkapitals übergegangen. Die Vertrauensmänner und Beauftragten der führenden Industrie sitzen in der Regierung, verwalten die hohen Staatsämter oder haben die Strippen in der Hand, an denen die jeweiligen Partei- und Regierungsmarionetten hängen. Als im November 1929 die Schaffung eines Direktoriums geplant war, galt (wie schon erwähnt) ganz allgemein und als ganz selbstverständlich Herr Minoux, die rechte Hand von Stinnes, als der kommende Mann. Ob schließlich Minoux oder Stresemann oder Schacht — immer wird ein Vertreter des Großkapitals, der Industrie- und Bankwelt, an der Spitze stehen und die Zügel der Regierung in der Hand haben. Das Parlament ist durch Ermächtigungsgesetze von der Mitbestimmung ausgeschaltet oder wird vor fertige Tatsachen gestellt; es gilt nur noch als dekorative Schaustellung, die man dem Ansehen der Republik schuldig ist. Das Schwergewicht aller großen Entscheidungen liegt nicht bei ihm, nicht bei der Regierung, sondern bei den Banken und Unternehmerverbänden, dem Reichswirtschaftsrat, dem kleinen Kreise der maßgebenden Wirtschaftsträger. Immer mehr greift die Erkenntnis Platz, daß im Gesellschaftsganzen das ökonomische Moment im Vordergrunde steht, das politische mehr und mehr in zweite Linie rückt.

Man kann diese Erscheinung vielleicht als eine Amerikaniesierung der Politik bezeichnen, weil sie zuerst in dem Lande der größten Kapitalmachthaber aufkam und typisch ist für die Art in der die Trustmagnaten und Bankpotentaten ihre Politik zu machen pflegen. Die unverhüllte Herrschaft des Geldsacks, durch keine Romantik verschleiert, keine Ethik entschuldigt, keine Staatsgeste sanktionierte, keine Parlamentsphrase gerechtfertigt — die ganz unmittelbare, brutale Gewaltpolitik der Wirtschaftsdiktatoren, die Stinnesierung der Politik — das ist das charakteristische Kennzeichen der letzten Phase, in die der deutsche Kapitalismus der Nachkriegszeit geschleudert worden ist, der Phase der Internationalität.


VII. Betriebsorganisation und Arbeiter-Union

Als sich in der November-Revolution 1918 der bürgerliche, also kontrerevolutionäre Charakter der Parteien und Gewerkschaften zum zweiten Male in voller Glorie offenbarte, kam ein Teil der Proletarier, die es mit der Revolution ernst meinten, zum Bewußtsein. Sie erkannten, daß sich der politische Kampf immer nur in Machtverschiebungen erschöpft, die sich auf gegebener Basis vollziehen; daß bürgerliche Organisationen mit bürgerlicher Kampftaktik, auch wenn sie Proletarier zu Mitgliedern haben, notwendiger Weise bei einem Kompromiß mit der bürgerlichen Wirtschafts- und Staatsgewalt anlangen; daß angesichts der Verschiebung des Schwergewichtes aller Kämpfe nach der ökonomischen Seite hin das Verbleiben in politischen Organisationen und Durchfechten politischer Kämpfe von vornherein zu Niederlagen führen müsse.

So begann ein Teil des Proletariats sich nach neuen Gesichtspunkten zu orientieren und schließlich auch zu organisieren. Man erkannte:

Die proletarische Revolution ist von der bürgerlichen Revolution völlig wesensverschieden.
Die proletarische Revolution ist in erster Linie eine ökonomische Angelegenheit.
Die proletarische Revolution kann nicht in bürgerlichen, sondern nur in proletarischen Organisationen ausgefochten werden.
Die proletarische Revolution muß eine eigene Kampftaktik entwickeln.

Die Konsequenz dieser Erkenntnis war die entschiedene Abkehr von Partei, Parlament, Gewerkschaft und allem, was damit zusammenhängt. Das Positive schwebte zunächst ziemlich unklar in der Luft und gewann erst mit der Zeit, im Verlaufe vieler Kämpfe und Diskussionen, Form und Gestalt. Die revolutionäre Gewerkschaft der amerikanischen Arbeiter I.W.W. (Industrial Workers of the World) tauchte, obwohl nur Wenigen bekannt, als Vorbild auf. Dazu kam, daß gerade in der Revolutionszeit der Gedanke des Rätesystems, der in Rußland eine große Rolle gespielt hatte, eifrig diskutiert wurde und im Mittelpunkt aller praktischen Sozialisierungsvorschläge und versuche stand. "Wilde" Streiks, die überall ausbrachen und gegen den Willen der Gewerkschaften durchgeführt wurden, gaben Anlaß zur Wahl revolutionärer Aktionssausschüsse, denen bald revolutionäre Betriebsräte folgten. Schließlich wuchs sich die Bewegung, zuerst im Ruhrgebiet unter den Bergleuten, zum Kampf um revolutionäre Betriebsorganisationen aus. Diese BO‘s, in Ortsgruppen zusammengefaßt und darüber hinaus zu Wirtschaftsbezirken vereinigt, über das ganze Reich hinweg zu einer einheitlichen Räteorganisation auf und auszubauen, war bald der Hauptgedanke und das Leit ziel einer Bewegung, die in der Union, als der neuer organisatorischen Gefäß des revolutionären Arbeiter-Kampf willens, mündete. Nicht am grünen Tisch von Führern aus geklügelt, nicht durch Propaganda den Arbeitern als schlaue Erfindung übermittelt, sondern ganz elementar aus den Boden der heftigsten und ernstesten Kämpfe erwachsen stand sie bald selbst als Gegenstand hitzigster Meinungskämpfe und Debatten im Mittelpunkte der revolutionären Bewegung.

Die Unionsbewegung geht aus von der Grunderkenntniss daß die proletarische Revolution, da sie das Fundament der Gesellschaft umgestürzt wissen will, in erster Linie eine ökonomische Revolution ist, und daß die Arbeiterschaft der Kapital, dessen Macht in den Betrieben verankert ist um sich in erster Linie ökonomisch auswirkt, von den Betrieben aus als geschlossene Macht entgegentreten muß. Der Arbeiter von heute ist nur im Betrieb wirklicher Proletarier und als solcher Revolutionär im Sinne der proletarisch-sozalistischen Revolution. Außerhalb des Betriebes ist er Kleinbürger, befangen in kleinbürgerlichem Milieu und philiströsen Lebensgewohnheiten, beherrscht von kleinbürgerlicher Ideologie. Er ist aufgewachsen in bürgerlichen Familien, erzogen in bürgerlicher Schule, genährt mit bürgerlichem Geiste. Die Ehe ist eine bürgerliche Zwangsinstitution. Das Wohnen in Mietskasernen ist bürgerliche Einrichtung. Der Privathaushalt jeder Familie mit eigener Küche führt zu einer ganz egoistischen Wirtschaftsweise. Dort sorgt der Mann für seine Frau, die Frau für ihre Kinder; jeder denkt nur an seine Interessen. Schon das Kind ist in bürgerlichen Schulen auf bürgerlich beeinflußte und nach bürgerlichen Tendenzen zugestutzte Wissenschaft angewiesen. Alles wird vom Standpunkt der bürgerlich-ideologischen Geschichtsauffassung behandelt. Dann in der Lehre, im Geschäft, in der Fabrik: wieder in bürgerlicher Umgebung. Was einer liest, was er im Theater, im Kino, usw., aufgenommen hat, auf der Straße, im Gasthaus, überall tritt ihm bürgerliches Wesen entgegen. Und das alles ergibt eine bürgerhohe Denk- und Gefühlsweise. Mancher wird, sobald er seinen Arbeitsrock ausgezogen hat, ein Bourgeois auch in seinem Benehmen. Er behandelt Frau und Kinder so, wie er von seinem Chef behandelt wird, verlangt Unterwerfung, Bedienung, Autorität. Wenn das Proletariat von der Bourgeoisie befreit ist, muß man die Frauen und Kinder noch von den Männern befreien. Das hängt nicht mit Böswilligkeit zusammen, sondern kommt aus unserer bürgerlichen Einstellung, durch die Umwelt, durch die bürgerliche Atmosphäre. Wenn man den Arbeiter außerhalb des Betriebes sieht, ist er Kleinbürger. In Kleidung, Gewohnheiten, in der Lebensform äfft er den Bürger nach und fühlt sich wohl, wenn man ihn vom Bürger nicht unterscheiden kann. Erfassen wir den Arbeiter nach Wohnbezirken und Straßen mit der Partei- und Gewerkschaftsmitgliedschaft, so bekommen wir ihn nur als Kleinbürger. Bestenfalls kriegen wir ihn das zur Abgabe eines Stimmzettels, zu einer friedlichen Demonstration, zu mehr kaum. Am liebsten weicht er Kämpfen aus oder zieht sich rasch zurück. "Die Führer sollen kämpfen", sagt er in seiner Feigheit, "dafür werden sie bezahlt."

Im Betrieb ist der Arbeiter ein anderer Mensch. So steht er dem Kapitalismus Auge in Auge gegenüber, fühlt die Faust inm Nacken, ist gereizt, erbittert, feindselig. Bricht hier ein Konflikt aus, kann er sich nicht so leicht drücken. Er steht unter der Kontrolle der anderen, unterliegt der allgemeinen Suggestion, wird mit fortgerissen und stellt seinen Mann. Revolutionäre Stimmung und revolutionäre Entschlossenheit fallen hier zusammen.

Parteien und Gewerkschaften, weil sie immer nur den Kleinbürger, nie den bewußten, wirklichen Proletarier erfassen, können es nie — schon aus Gründen der Beschaffenheit ihres Menschenmaterials — zu einer revolutionären Aktion bringen. Bestenfalls zu einem Krawall. Einem Putsch. Aber wenn dann diese wildgewordenen Kleinbürger in Aufwallung ihres Zorns auf die Straße stürzen, um zu kämpfen, werden sie vom bürgerlichen Wesen (Bonze, Polizei, Militär) aufgefangen, lahmgelegt oder abgestochen. Und die Bewegung ist verloren.

Anders im Betrieb. In jeder Fabrik ist ein Stamm revolutionärer Elemente. Sie kommen aus allen Lagern und Parteien. Nur Größenwahn kann behaupten, daß es ausschließlich in einer Partei Revolutionäre gäbe oder die Zugehörigkeit zu dieser Partei die revolutionäre Qualität ausmache. Alle Revolutionäre im Betrieb, unbekümmert um bisherige Partei- oder Gewerkschaftszugehörigkeit, tun sich zusammen und bilden die revolutionäre Betriebsorganisation. Bist du revolutionär? Willst du kämpfen? Verläßt du Partei und Gewerkschaft? — Das genügt. Wer das will, kann Mitglied der revolutionären Betriebsorganisation werden.

Die proletarische Revolution hat ein gewaltiges System von Grund aus zu vernichten und im größten Ausmaß ganz Neues zu schaffen. Zu dieser Aufgabe reichen die Kräfte von Parteien und Gewerkschaften nicht aus. Auch die stärksten Verbände sind dafür zu schwach. Die proletarische Revolution kann nur das Werk der ganzen proletarischen Klasse sein. Alle Kräfte müssen hierfür erfasst werden jeder Einzelne muß am richtigen Platz und dort das Beste leisten. Dieser richtiger Platz ist der Betrieb, wo jeder seine Pflicht erfüllt. Hier, im Betrieb, sind alle proletarischen Kräfte zu erfassen.

Die Betriebsorganisation ist im Grunde absolut nichts Neues. Daß sie ganz elementar aus dem Kampfe erwuchs, erklärt sich daraus, daß in der Entwicklung des Kampfes und der Arbeit alles für ihr Entstehen vorbereitet war. Sie war sozusagen längst vorhanden: der Kapitalismus selbst hat sie geschaffen. Um des Profits willen hat er eine wunderbare Arbeitsorganisation aufgebaut: den Betrieb, die Zeche, das Werk, den Wirtschaftskomplex, die Bezirksanlage. Die Arbeiterschaft braucht sich dieser Organisation nur revolutionär bewußt zu werden, sie zu erfassen, umzustellen und als Kampforganisation zu benutzen. Sie hat keinen Partei-Ersatz, keine Gewerkschafts-Konkurrenz neu zu schaffen. Sie hat sich nur der vorhandenen Arbeitsorganisation, die kapitalistischen Erwerbszwecken dient, zu bemächtigen und sie in den Dienst revolutionärer Kampfzwecke zu stellen. Das geschieht, indem die Arbeiter in den Betrieben selbst erkenne, welche Macht sie in den Händen haben: indem sie weiter Vorsorge treffen, um den vorhandenen Organisationsapparat an sich zu reissen: und indem sie sich schließlich der Betriebe bemächtigen, um das bürgerliche System zu entwurzeln und den Sozialismus an seine Stelle zu setzen.

Das Mittel dazu ist die Betriebsorganisation.

Die BO ist ein föderatives Gebilde, ohne Zentralismus. Alle Mitglieder sind selbständig: niemand außerhalb des Betriebes hat ihnen in ihre Betriebsangelegenheiten hineinzureden. In ihrer BO sind die Mitglieder autonom. Kein Bonze aus dem Büro oder einer Zentralstelle, kein Intellektueller oder beruflicher Führer kann in ihre Angelegenheiten sich einmischen. Aus sich selbst hieraus bauen sich die BO‘s auf und erledigen mit eigenen Kräften und eigenen Mitteln ihre Angelegenheiten. Das ist föderalistische Selbstständigkeit, Autonomie. Die BO ist weder Partei noch Gewerkschaft. Sie hat nichts mit Agitation und Betätigung der Gewerkschaften zu tun. Sie ist keine Arbeitsgemeinschaft, keine Unterstützungseinrichtung, sie schliesst keine Tarifverträge ab und hat kein Interesse an "Karl Legien" getauften Hapagdampfern. Sie ist lediglich eine Stelle der Vorbereitung und Schürung der Revolution. Besteht nun eine BO neben der anderen, so müssen sie miteinander in Verbindung treten. Nehmen wir an, in einem großen Werke beständen in den verschiedenen Abteilungen (Gießerei, Formerei, Dreherei, Tischlerei und Buchhaltung) BO‘s. Diese Abteilungen zusammen ergeben das Werk. Bei Fragen, die nicht die einzelnen Abteilungen, sondern das Ganze angehen, müssen die BO‘s insgesamt wirken. Das geschieht mittels der Betriebsdelegierten oder, Vertrauensmänner, die von Fall zu Fall gewählt werden. Zu einer Besprechung, einem bestimmten Beschluß bekommt der Delegierte ein gebundenes Mandat von seiner BO. Der Delegierte hat nur den Auftrag der BO auszuführen, verfügt darüber hinaus über keinerlei unabhängige Rechte. Der Führer ist also nicht, wie der Parteisekretär oder Abgeordnete, unabhängig von seinen Wählern. Er kann sich nicht so oder auch anders entscheiden und nachträglich referieren und ein Vertrauensvotum holen. Er hat nur den Willen der Masse auszuführen. Die Mitgliedschaft hat das jederzeitige Ruckberufungsrecht, wenn der Delegierte unzuverlässig ist. Dieser kann dann durch einen besseren ersetzt werden. Ständig ist er in der Kontrolle und Gewalt der Massen — durch ihn spricht die werktätige Masse.

Nun kann es Fragen geben die, noch über die Sphäre eines Werkes hinausgehen, vielleicht ein ganzes Wirtschaftsgebiet betreffen. Dann treten die Delegierten der Werke des ganzen Wirtschaftsgebietes zusammen. Auch sie haben gebundenes Mandat und sind jederzeit abberufbar. So vollzieht sich der Aufbau vom Betrieb, über das Werk, den Wirtschaftsbezirk bis zum gesamten Reich. Das ist kein neuer Zentralismus, sondern nur das von unten nach oben aufgebaute Rätesystem. Der Zentralismus hat äußerlich auch diese Organisationsform. Da geht das Kommando aber von oben mach unten. Beim Aufbau der Betriebsorganisation geht der Beschluß von unten nach oben, er beruht nicht auf einer Führereinsicht, sondern auf der Grundlage der Willenskundgebung der Massen. Nicht die Führer befehlen, während die zu gehorchen haben vielmehr bestimmend die Massen und die Führer sind Ausführende des Massenwillens geworden. Die Politik wird im Namen und nach der Initiative der Massen gemacht. Das ist das grundsätzlich Neue, das proletarische Element.

Die alten Parteien und Gewerkschaften vollzogen ihren Aufbau folgendermaßen: Ein paar Leute, die sich von Anfang an als Führer fühlten, veranstalteten einen Kongreß, entwarfen ein Programm, faßten einen Gründungsbeschluß und gaben sich einen Namen — dann wurden Mitglieder geworben. Erst waren die Offiziere da, dann die Soldaten — die Beeinflußung und Beglückung der Menschen erfolgte von oben im Sinne des autoritären Prinzips.

Beim Aufbau der Betriebsorganisation ist es genau umgekehrt. Zuerst sind die Massen da, die sich sammeln, ordnen und ihre Angelegenheiten beraten. Braucht man Ausführer der gefaßten Beschlüsse, so wählt man Delegierte, denen man den Beschluß als gebundenes Mandat übergibt. Kommen die Delegierten mit den Delegierten anderer BO‘s auf einer Konferenz zusammen, so hat die Konferenz nicht zu beraten und zu beschließen, sie bat nur den Willen der vertretenen BO‘s festzustellen. Die Konstatierung dieses Willens ist der Beschluß. Aufgabe der Konferenz ist es nun, zu beraten, wie sie den Beschluß am zweckmäßigsten ausführt. Die Delegierten werden so zu Ausführungsorganen. Willensvollstreckern der BO‘s. Sie stehen als Letzte in der Reihe, nicht als Erste. Denn die Bewegung geht von unten nach oben. Das Schwergewicht liegt in den Massen nicht bei den Führern.

Die Zusammenfassung der Betriebsorganisationen zu einer größeren und stärkeren Einheit heißt Arbeiter-Union. Die Leitung der Arbeiter-Union wird gebildet von den Obleuten der Bezirksorganisationen. Ihrer organisatorische Struktur nach ist die Arbeiter-Union weder föderalistisch, noch zentralistisch, sondern beides und auch beides nicht. Sie läßt im Unterbau die Freiheit und Selbständigkeit weiterbestehen, die der Föderalismus der BO‘s gewährleistet, fügt aber im Oberbau das zusammenfassende Moment der Konzentration hinzu, das dem Zentralismus entstammt. Aber wie der Föderalismus ohne seine Schwäche der Zersplitterung und mangelnden Einheitlichkeit vorhanden ist, so der Zentralismus ohne den Nachteil der Unterbindung und Ertötung von Einzelinitiative und Massenwillen. In der Arbeiter-Union erscheinen also Föderalismus und Zentralismus in einer höheren Vereinigung, in einer Synthese. Darin liegt die grosse Überlegengheit der Arbeiter-Union über jede andere Organisationsform. Sie ist vollkommener als jede nur föderalistische oder nur zentralistische Vereinigung, sie ist beides ohne die Nachteile der einen wie der anderen Form.

In der vorrevolutionären Phase hatte die Spaltung der Organisationen in politische und gewerkschaftliche einen Sinn. Es gab damals in der Tat reine politische Kampfe. die mit politischen Mitteln ausgefochten sein wollten, und reine Wirtsebaftskämpfe, die ausschließlich wirtschaftliche Kampfrnittel verlangten. Seit dem Kriege und dem großen Umschwunge, den er herbeigeführt, ist dies anders geworden. Heute wächst sich jeder zunächst auch noch so kleine Wirtschaftskampf im Handumdrehen zu einem politischen Konflikt aus: jede Lohnbewegung endet mit der Erkenntnis, daß mit Lohnzulagen dem Proletariat nicht mehr zu helfen ist, daß vielmehr nur die Beseitigung des ganzen Lohnsysteme ihnt Rettung vor dem Untergange sichert. Das aber ist auch eine politische Angelegenheit. Und umgekehrt: jeder ernsthafte politische Konflikt setzt sofort die Waffen der Wirtschaftskämpfe in Bewegung. Ebert und Noske, geschworen Feinde des Generalstreiks — als sie ihr politisches System beim Kapp-Putsch in Gefahr sahen, riefen sie die Massen zum Generalstreik auf. Die KPD lehnte in ihren berühmten 21 Punkten des Heidelberger Parteitages ganz entschieden Sabotage und passive Resistenz als "syndikalistische und anarchistische Kampfmittel" ab. Beim Ruhrkampf aber riefen Regierung, SPD und KPD gemeinsam die Arbeiter zu Sabotage und passiver Resistenz auf.

In der Revolution erfordert es die jeweilige Situation, bald dieses, bald jenes Mittel im Kampfe einzutsetzen, rasch die Mittel zu wechseln, oft eine Verbindung der Mittel vorzunehmen usw. Die Revolution selbst wechselt unausgesetzt ihr Gesicht, ist bald mehr ein ökonomischer, bald mehr ein politischer Prozeß. Sie ist ein ökonomisch-politischer Einheitskampf in grossen Dimensionen. Da wird die Arbeiterschaft im Nachteil sein, wenn sie an diesem Einheitskampfe mit gespaltenen Organisationen teilnehmen muß. Sie hat das höchste Interesse an einer ökonomisch-politischen Einheitsorganisation mit der sie jeder Situation und Phase des Kampfes gewachsen ist. Die Arbeiter-Union ist eine solche Einheitsorganisation.

Die erste Arbeiter-Union als Einheitsorganisation entstand im Oktober 1921 unter dem Vorangehen Ostsachsens, das sich bereits 1920 von der KAPD abgelöst hatte. Eine Reichskonferenz nahm, nach dem Vorschlage Ostsachsens, folgende "grundlegende Richtlinien für die AAU (Einheitsorganisation)" an:

    Die AAU ist die politische und wirtschaftliche Einheitsorganisation des revolutionären Proletariats.
    Die AAU kämpft für den Kommunismus, die Vergesellschaftung der Produktion, Rohstoffe, Mittel und Kräfte und der aus diesen hervorgebrachten Bedarfsgüter. Die AAU will die planmäßige Produktion und Verteilung an die Stelle der heutigen kapitalistischen setzen.
    Das Endziel der AAU ist die herrschaftslose Gesellschaft; der Weg zu diesem Ziel ist die Diktatur des Proletariats als Klasse. Die Diktatur des Proletariats ist die ausschließliche Willensbestimmung der Arbeiter über die politische und wirtschaftliche Einrichtung der kommunistischen Gesellschaft vermöge der Räteorganisation.
    Die nächsten Aufgaben der AAU sind: a) Die Zertrtümmerung der Gewerkschaften und der politischen Parteien, dieser Haupthindernisse für eine Einigung der proletarischen Klasse und für die Fortentwicklung der sozialen Revolution, die keine Partei- oder Gewerkschaftssache sein kann. b) Die Zusammenfassung des revolutionären Proletariats in den Betrieben, den Urzellen der Produktion, dem Fundament der kommenden Gesellschaft. Die Form aller Zusammenfasssung ist die Betriebsorganisation. c) Die Entwicklung des Selbstbewußtseins und des Solidaritätsgedankens der Arbeiter. d) Alle Maßnahmen vorzubereiten, die für den politischen und wirtschaflichen Aufbau notwendig sein werden.
    Die AAU verwirft alle reformistischen opportunistischen Kampfmethoden, sie wendet sich gegen jede Beteiligung am Parlamentarismus und an den gesetzlichen Betriebsräten, denn diese bedeutet eine Sabotage des Rätegedankens.
    Die AAU lehnt das Berufsführertum grundsätzlich ab. Sogenannte Führer können nur als Berater in Frage kommen.
    Alle Funktionen in der AAU sind ehrenamtlich.
    Die AAU betrachtet den Befreiungskampf des Proletariats nicht als nationale, sondern als eine internationale Angelegenheit. Deshalb erstrebt die AAU die Zusammenfassung des gesamten revolutionären Weltproletariats zu einer Räte-Internationale.

Mit diesen programmatischen Richtlinien hat sich die AAU 1921 als Einheitsorganisation konstituiert. Nach zweijähriger Entwicklung hat die Ortsgruppe Dresden Anlaß genommen, das Resultat ihrer Einsichten und Erfahrungen, die sie aus ununterbrochenen, mit äußerster Konsequenz geführten Kämppfen gewonnen, in folgenden programmatischen und organisatorischen Richtlinien niederzulegen:

1. Die Ursachen der unionistischen Bewegung

Der Weltkrieg mit seinen nationalen und internationalen Auswirkungen auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiete hat in beschleunigtem Tempo das Zeitalter der Revolution gebracht. Der steigende Zerfall der kapitalistischen Wirtschaft erzeugt als Folgeerscheinung eine immer größer werdende Verelendung der Arbeiterklasse.

Diese steigende Verelendung läßt sich erfahrungsgemäß nicht mehr ausgleichen durch Kämpfe um bessere Lohnbedingungen oder gesetzgeberische (parlamentarische) Reformen. Sie kann nur beseitigt werden durch die Beseitigung der kapitalistischen Wirtschaftsweise selbst und die Ersetzung derselben durch die sozialistisch kommunistische Bedarfswirtschaft. Indem die Erkämpfung dieses Zieles nur die Angelegenheit der proletarischen Klasse selbst sein kann, ergibt sich hieraus für das Proletariat ganz von selbst die Forderung des Aufgebaus der reformistischen Kampfmethoden und die Ersetzung derselben durch eine zielbewußte revolutionäre, auch organisatorisch anders geartete Form des Kampfes. Der Sieg der Revolution hat zur Voraussetzung die Einigkeit der Arbeiterklasse. Parteien und Gewerkschaften, ihrem ganzen Wesen nach reformistisch eingestellt, haben sich als Hemmschuh der notwendigen revolutionären Einigkeit erwiesen. In ihrem organisatorischen Aufbau zentralistisch, mit dem besonderen Kennzeichen des Berufsführertums, verhindern diese Organisationsformen insbesondere die Selbst- bewußtseinsentwicklung des Proletariats. Damit wurde das Einigkeitsproblem zugleich zu einem Problem um die revolutionäre Organisationsform.

Aus dieser Erkenntnis heraus und im Einklang mit der materialistischen Geschichtsauffassung, daß sich verändernde Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse notwendigerweise auch anders geartete Organisationsformen bedingen, entstand die AAUE.

2. Wesen und Ziel der AAUE

Von der Auffassung ausgehend, daß sieh Wirtschaftsfragen und politische Fragen nicht künstlich trennen lassen, ist die AAUE weder Gewerkschaft noch Partei, sondern die Einheitsorganisation des Proletariats. Um die Einheitsfront der proletarischen Klasse herzustellen, organisiert die Union alle Arbeiter, die sich zu ihren Zielen bekennen, an den Produktionsstätten, den Betrieben. Alle Betriebsorganisationen schließen sich zur Union auf der Basis des Rätesystems zusammen.

Die Umorganisierung der kapitalistischen Wirtschaft in die sozialistisch-kommunistische Wirtschaft hat zur Voraussetzung die revolutionäre Besitzergreifung der Produktionsmittel durch das Proletariat. Der Umorganisierungsprozeß kann sich nur vollziehen auf dem Wege der Diktatur, das heißt der ausschließlichen Willenbestimmung der Proletarierklasse. Das Instrument der Umorganisierung ist das revolutionäre Rätesystem. Das Rätesystem, nach welchem sich die Union aufbaut, soll im wesentlichen die Grundzüge des zukünftigen Rätesystems tragen.

3. Aufbau der BO

Die Betriebsorganisation wählt sich, je nach ihrer Größe und Art des Betriebes, eine von ihr selbst für nötig zu erachtende Anzahl Vertrauensleute. Sie verkörpern den eigentlichen Betriebsrat, welcher alle Angelegenheiten im Einvernehmen mit den Mitgliedern zu regeln hat. Die Obleute (Betriebsrat) sind alle Vierteljahre zur Neuwahl zustellen. Wiederwahl ist zulässig. Wählbar ist jedes Mitglied. Sind in einem Betrieb mehrere Unionisten beschäftigt, so sind dieselben verpflichtet, eine Betriebsorganisation zu gründen. Einzelmitglieder organisieren sich zunächst nach Industriegruppen oder Wohnbezirken, ebenso Angehörige von Kleinbetrieben. Selbständige Kleingewerbetreibende, sowie Intellektuelle organisieren sich nur nach Wohnbezirken. Die Wohnbezirksgruppen tragen den Charakter von Interimsorganisationen insofern, als jedes Mitglied dort auszuscheiden hat, sobald in seinem Betriebe oben angeführte Voraussetzungen zur Gründung einer eigenen BO gegeben sind.


4. Aufbau der Union (Räteorganisation)

Jede Betriebsorganisation, Wohnbezirks- oder Industriegruppe hat mindestens einen Vertrauensmann in den örtlichen Räte-Obleutekörper der Union zu entsenden. Größere Betriebsorganisationen. Wohnbezirks- und Industriegruppen entsenden mehrere Vertrauensmänner. Ihre Anzahl kann nach einem einheitlichen Schema von Zeit zu Zeit nach praktischen Erwägungen geregelt werden. Alle drei vorgenannte Organisationsformen bilden in einem gegebenen Orte gemeinsam eine Räteortsgruppe. Alle Ortsgruppen eines bestimmten Wirtschaftsgebietes bilden zusammen einen Wirtschaftsbezirk. Die Ortsgruppen wählen aus sich heraus einen Bezirkswirtschaftsrat; er trägt in der Hauptsache den Charakter einer Informationsstelle für den Bezirk und ist außerdem ausführendes Organ der ihm von den Bezirkskonferenzen übertragenen Arbeiten. Notwendig sich ergebende Konferenzen sind durch ihn einzuberufen, sofern die zeitweilige Situation ein in der Regel vorheriges Einvernehmen mit Ortsgruppen unmöglich macht. Im gleichen Sinne ist bei Reichskonferenzen zu handeln. Jede Bezirksortsgruppe hat die Pflicht eine Vertretung zu den Bezirkskonferenzen zu entsenden. Mindestens einmal im Jahre hat eine Reichskonferenz stattzufinden, wo alle Wirtschaftsbezirke tunlichst vertreten sein müssen.

Die Reichskonferenz wählt sich einen Reichswirtschaftsrat. Sein Charakter und seine Aufgaben entsprechen dem des Bezirkswirtschaftsrates, nur mit dem Unterschiede, daß sich seine Tätigkeit über das gesamte Reichsgebiet erstreckt. Ergeben sich als Extrakt seiner Beratungen in der Zeit, die zwischen den Reichskonferenzen liegt, notwendige Maßnahmen, die im Interesse der gesamten Union liegen, muß er dieselben erst zur allgemeinen Beschlussfassung vorlergen, Reichs- und Bezirkskonferenzen haben nur insoweit eigenes Beschlussrecht, als es sich um allgemeine Reichs-, beziehungsweise Bezirksfragen handelt. Insbesondere dürfen solche Beschlüsse nicht gegen allgemein anerkannte Grundsätze verstoßen. Im großen und ganzen sollen diese Konferenzen dem Erfahrungsaustausch dienen. Alle Vertrauensleute der einzelnen BO sowie der gesamten Union sind jederzeit abberufbar.


5. Taktik

Die AAUE lehnt jede Beteiligung an den Wahlen zu dem gesetzlichen Betriebsrätekörper grundsätzlich ab. Demzufolge auch die Delegation von Unionisten in diese Körperschaft von dem Gesichtepunkte ausgehend, daß die gesetzliche Betriebsrätetätigkeit eine künstliche Verschleierung der Klassen- gegensätze bewirkt.

Aus der unter Punkt 1 angeführten Erkenntnis heraus lehnt die AAUE für sich die Propaganda und die Organisierung von Teilstreiks gleichfalls grundsätzlich ab. Da die Union gegenwärtig aber noch nicht in der Lage ist, die Entwicklung der Verhältnisse in ihrem Sinne zu beeinflussen, ergibt sich automatisch der Zustand, daß Unionsgenossen mit in die Tarifstreike der gewerkschaftlich orientierten Arbeiter hineingezogen werden. In solchen Fällen haben die in Arbeit stehenden Unionsgenossen die notwendigen Solidaritätsgelder auf dem Wege des Umlageverfahrens aufzubringen. Die Höhe der jeweilig notwendigen Umlage wird in der Räteobleuteversammlung beraten und festgesetzt und ist in Gestalt einer für alle gleichmäßigen Pauschalsumme von jedem Genossen zu erheben und durch den Obmann der BO an den Ortsarbeitsausschuß abzuführen. Dabei ist es jeder BO überlassen, ob sie sich für solche Zwecke einen Fonds ansammelt oder die Umlage unter sich von Fall zu Fall erhebt. Maßgebend muß der Grundsatz sein: "Wer schnell gibt, gibt doppelt! Ergibt sich die Notwendigkeit der Solidaritätsanwendung für den ganzen Bezirk, so ist die Höhe der notwendigen Bezirksumlage durch den entsprechenden Bezirkeskörper zu errechnen. Macht sich die Anwendung der Solidarität über das Reich notwendig, so hat die Regelung die entsprechende Reichskörperschaft in derselben Weise zu übernehmen.

Alle gesammelten Gelder sind vom Ortsarbeitsausschuß sofort an die im Streik befindliche Bezirks-, beziehungsweise Ortsguppe zu überweisen. Die Errechnungsweise erfolgt nach dem Schema, daß 25 Genossen einen Genossen unterstützen sollen. Der Unterstützungssatz soll zufolge des gesunkenen Reallohnes 60 Prozent eines allgemeinen Durchschnittslohnes betragen Gemaßregelte oder sonstige im Kampf für unsere Ziele in Not geratene Genossen haben ein gleiches Anrecht auf Solidaritätsbezeugung, die Höhe des jeweiligen Unterstützungssatzes setzt die nächstzuständige Körperschaft fest, wonach die Umlage erhoben wird.
6. Verwaltungswesen

Alle von den Orts-, Bezirks- und Reichsausschüssen benötigten Verwaltungsgelder sind im Wege des Umlageverfahrens einzuziehen. Alle Funktionen in der gesamten Union sind ehrenamtlich auszuführen; Vergütungen erfolgen nur in solchen Fällen, wo sie mit Lohneinbuße verbunden sind, ferner für Fahrgelder und notwendigerweise entstehende Mehrausgaben für reisende Redner.
7. Mitgliedschaft

Mitglied kann jeder Arbeiter oder jede Arbeiterin werden, die sich zu vorliegenden Grundsätzen und Richtlinien bekennt. Das Ausschlußrecht steht nur der BO zu; der eventuelle Ausschluß einer BO der Ortsunion. Ein ganzer Orts- oder Wirtschaftsbezirk kann nur durch die Reichskonferenz ausgeschlossen werden. Ausschlüsse können nur erfolgen, wenn Verstöße gegen allgemein anerkannte Grundsätze vorliegen. Gegen alle Ausschlüsse kann innerhalb vier Wochen bei der nächsthöheren Körperschaft Berufung eingelegt werden deren Entscheid nicht weiter angefochten werden kann. Bis zur Verwerfung seines Rekurses ist der Protestant noch vollwertiges Mitglied der Gesamtunion und darf ihm die zuständige Presse zur Klarstellung des Sachverhaltes nicht, vorenthalten werden. Jeder Genosse hat die Pflicht den grundsätzlichen, taktischen und organisatorischen Fragen der AAUE immer regstes Interesse entgegenzubringen; die Vollkommenheit im Aufbau der Organisation und unsere Macht sind dadurch bedingt.


VIII. Das Rätesystem

Betriebsorganisation und Arbeiter-Union sind getragen und beherrscht vom Prinzip des Rätesystems. Das Rätesystem ist die dem Klassenkampfcharakter wie der späteren kommunistischen Gesellschaft entsprechende 0rganisation des Proletariats. Wenn Marx sagte, daß die Arbeiterklasse die Regierungsmaschine des kapitalistischen Staates nicht einfach übernehmen könne, sondern für die Durchführung ihres revolutionären Willens ihre eigene Form finden müsse, so ist diese Aufgabe in der Räteorganisation gelöst.

Der Rätegedanke wurde in der Pariser Kommune geboren. Die Kommunekämpfer erkannten, daß es notwendig sei, die bureaukratisch-militärische Maschine, anstatt sie aus einer Hand in die andere zu übertragen, resolut zu zerbrechen, wenn sie zu einer "wirklichen Volksrevolution" kommen wollten. Sie ersetzten die zertrümmerte Staatsmaschinerie durch eine Institution von prinzipiell anderem Charakter: die Kommune. "Die Kommune", schrieb Marx, "sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit. Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitgleid der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- oder zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen, wie das individuelle Stimmrecht jedem anderen Arbeitgeber dazu dient, Arbeiter, Aufseher und Buchhalter in seinem Geschäft aufzusucben. Das erste Dekret der Kommune war die Unterdrückung des stehenden Heeres und seiner Ersetzung durch das bewaffnete Volk. So wurde die Polizei das Werkzeug der Staatsregierung, sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso die Beamten der anderen Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts mußte der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden. Die erworbenen Anrechte und Repräsentationsgelder der hohen Staatswürdenträger verschwanden mit diesen Würdenträgern selbst. Die richterschen Beamten verloren jene scheinbare Unabhängigkeit, sie sollten fernerhin gewählt, verantwortlich und absetzbar sein. Die vollständig durchgeführte Wählbarkeit und Absetzbarkeit aller beamteten Personen ohne jede Ausnahme zu jeder beliebigen Zeit, die Reduzierung ihrer Gehälter auf die Stufe des gewöhnlichen Arbeiterlohnes, diese einfachsten und selbstverstädlichen demokratischen Maßnahmen, verbanden die Interessen der Arbeiterschaft mit denen der Mehrheit der Bauern und dienten gleichzeitig als Verbindungssteg zwischen Kapitalismus und Sozialismus.

Mehr als ein Verbindungssteg konnten die von den Kommunekämpfern getroffenen Maßnahmen nicht sein, weil ihrem politischen Staatsumbau die Basis der ökonomischen Gleichheit fehlte. In der russischen Revolution wurde der Steg zu einer recht respektablen Brücke. Schon 1905 entstand in Petersburg, Moskau usw. die Einrichtung der Arbeiterräte, die freilich der Reaktion bald wieder weichen mußte. Aber ihr Bild hatte sich der Arbeiterschaft eingeprägt, und in der Märzrevolution 1917 griff die Arbeitermasse Rußlands sofort wieder zur Bildung von Räten, nicht aus Mangel an anderen Organisationsformen. sondern weil die Revolution das lebendige Bedürfnis nach einem Zusammenschluß als Klasse in ihr geweckt hatte. Radek schrieb damals in Betrachtung diese Erscheinung: "Die Partei kann immer nur die geschultesten, klarsten Arbeiter heranziehen. Sie zeigt einen weiten Weg, weite Horizonte, setzt voraus eine gewisse Höhe des proletarischen Bewußtseins. Die Gewerkschaft, appelliert an die direktesten Bedürfnisse der Masse, aber sie organisiert sie nach Berufen, im besten Falle nach Industriezweigen, nicht aber als Klasse. In der Periode der friedliche Entwicklung sind nur die Vorderreihen des Proletariats klassenbewußt. Die Revolution aber besteht darin, daß die breitesten Schichten des Proletariats, auch solche, die bis dahin der Politik fremd gegenüberstande, aus ihrer Ruhe herausgetrommelt, von tiefer Gärung ergriffen werden. Sie wachen auf, wollen handeln, es wenden sich an sie verschiedene bürgerliche und sozialistische Parteien, verschieden in den Zielen ihrer Bestrebungen und in dem Wege, den sie einschlagen wollen. Die Arbeiterklasse fühlt instinktiv daß sie nur als Klasse siegen kann. Sie sucht sich als Klasse zu organisieren. Und dieses Gefühl, daß sie nur als Klasse siegen kann, daß die Bestrebungen ihrer Sonderteile, die sich um einzelne Parteien gruppieren, nicht siegreich sein können, ist so groß, daß bei aller Beibehaltung der Freiheit der Agitation für die Parteilosungen auch die fortgeschrittensten Teile des Proletariats, deren Bestrebungen weitergehen als die momentanen Wünsche ihrer Klasse, sich in den Tagen der Entscheidung der Klassenorganisation unterwerfen. Sie tun es aus klarer Einsicht in das Wesen der proletarischen Revolution. In der friedlichen Epoche der Bewegung stellt sich die proletarische Vorhut eng begrenzte politische Ziele, zu deren Erreichung die Kraft der gesamten Klasse gar nicht notwendig war. Die Revolution stellt die Frage der Eroberung der Macht auf die Tagesordnung. Dazu genügen die Kräfte der Avantgarde nicht. Die Arbeiterräte werden so der Boden, auf dem sich die Arbeiterklasse eint."

Die russischen Revolutionäre, die Arbeiter und Kleinbauern, eroberten mit Hilfe der Räte die wirtschaftliche und politische Macht. Sie nahmen die Macht nur für sieh. teilten sie nicht mehr mit irgendeinem Reste der Bourgeoisie. Sie teilten Rußland in Distrikte auf, in denen von Arbeitern und armen Bauern die Sowjets gewählt wurden, zunächst für die Orte, dann für die Distrikte; die Distrikts- Sowjets wählten den Zentral-Sowjet für das ganze Reich, und aus dem Kongreß dieser Sowjets ging der Exekutiv-Ausschuß hervor. Alle Mitglieder der Gemeinde-, Distrikts- und des Zentralsowjets, gleichwie alle Beamten und Angestellten, wurden nur für kurze Zeit gewählt; sie blieben immer von ihrer Wahlkörperschaft abhängig und waren ihr zur Rechenschaft verpflichtet. Die Arbeiterschaft hatte in den Arbeiteräten ihre Organisation, ihren klassenmäßigen Zusammenschluß und dessen Willensausduck, ihre Form und ihr Wesen gefunden. Für die Revolution wie für die sozialistische Gesellschaft.

Die russische Revolution hat durch die Errichtung von Arbeiterräten, mochte sie selbst diese auch in ihrer revolutionären Gestalt und für die Aufgaben des Sozialismus nicht aufrecht erhalten und wirksam machen können, den Arbeitern der Welt das Beispiel gegeben, wie die Revolution — als proletarisches Phänomen — durchgeführt sein will.

Mit diesem Beispiel vor Augen kann das Proletariat die Weltrevolution vorbereiten. Das Proletariat der Welt wird überall, wo sich die proletarische Revolution aufzurollen beginnt, vor, während und nach den Kämpfen Arbeiterräte in Gemeinden, Distrikten, Provinzen, Landesteilen und Nationen schaffen müssen, um ihnen — und zwar ihnen allein — die wirtschaftliche und politische Macht zu übertragen. Als die deutsche November-Erhebung ausbrach, stand plötzlich im Mittelpunkte aller revolutionären Forderungen und Parolen die Losung: Alle Macht den Räten! Und im Nu waren Arbeiter- und Soldatenräte da.

Sie waren gewiß unvollkommen und oft untauglich —der deutsche Arbeiter bestätigte auch hier die alte Erfahrung, daß der deutsche zur Revolution kein großes Geschick hat —aber sie waren nicht so Schicht, so mißraten und so ungeeignet zu jeder Wirksamkeit, wie die Kritik der Parteien und die Feindseligkeit der Kontrerevolutionäre sie hingestellt hat. Mochten ihre Fehler so groß sein als sie immer wollten: sie repräsentierten ein neues Prinzip, das Prinzip der proletarischen Revolution, das Prinzip des sozialistischen Aufbaues — darin lag ihre Bedeutung, ihr weitgeschichtlicher Wert. Und darin hätte der Respekt begründet sein müssen, den man ihnen schuldig war.

Aber die SPD, die Verbündete der Bourgeoisie (die sie eben erst mit ihrer Durchhaltepolitik über die Gefahren des Weltkrieges hinweggerettet hatte) und Mitverschworene der Reaktion, fiel wütend über die Arbeiterräte her, beschimpfte und begeiferte sie wurde nicht müde, sie durch erlogene und aufgebauschte Verdächtigungen und Beschuldigungen zu diskreditieren, sabotierte sie, indem sie den Bestand der Arbeiterräte von parlamentarischen Wahlen abhängig machte — und als diese infolge der Mitbeteiligung ganz unzuverlässiger oder direkt revolutionsgegnerischer bürgerlicher Elemente mehr oder weniger reaktionär ausfielen, ließ sie die in der Revolution errungene Macht der Räte durch Mehrheitsbeschlüsse auf die Nationalversammlung und die bureaukratischen Behörden übertragen. Wo sich die revolutionäre Arbeiterschaft diesem verräterischen und tückischen Vorgehen widersetzte, rückten die Noskegarden ein, warfen mit Waffengewalt in teilweise erbitterten Kämpfen (Bremen, Braunschweig, Leipzig, Thüringen, Ruhrgebiet) die Arbeiterschaft nieder und machten den Räten gewaltsam ein Ende. Wären diese Räte nicht rasch erschlossene Revolutionsblüten gewesen, die den deutschen Arbeitern unvermutet in den Schoß fielen, ihrer politischen Ideologie aber im Grunde fremd waren und fremd blieben, wären sie vielmehr in der proletarischen Kampfideologie organisch gereifte und in den Arbeitsbetrieben fest verwurzelte Gebilde gewesen, mit deren Funktion und Aufgabenkreis die Masse sich hätte vertraut machen können — niemals hätten sie aus dem Bilde der deutschen Revolution so rasch wieder fortgewischt und ausgetilgt werden können. So ließ sich der deutsche Proletarier die einzige Errungenschaft, die er aus den Novembertagen davongetragen hatte und aus der er den Anfang seiner, der proletarischen Revolution hätte entwickeln können, schnell wieder entreißen und kroch als braver Partei- und Gewerkschaftshammel wieder in den Pferch der grossen Bonzenmastanstalten zurück. Damit war für ihn die Revolution verloren.

Der Kampf um die Räteorganisation weist drei Phasen auf. Die erste ist der Kampf um die Eroberung der Macht. Hier ist die Räteorganisation, die "fortschreitende Befreiung aus den Fesseln des Kapitalismus: vor allein auch aus den Fesseln der bürgerlichen Geisteswelt. In ihrem Werden verkörpert sich die fortschreitende Selbstbewußtseinsentwicklung des Proletariats; der Wille, das proletarische Klassenbewußtsein in die Wirklichkeit umzusetzen, ihm auch den sichtbaren Ausdruck zu geben. Die Kraft, mit der um diese Räteorganisation gekämpft wird, ist geradezu das Thermometer, das anzeigt, wie weit das Proletariat sich als Klasse begriffen hat und durchzusetzen gewillt ist. Damit ist auch schon klar, daß nicht die rein äußerliche Ernennung von Arbeiterräten besagt, daß sie Ausdruck der neuen, der proletarischen Organisation sind. Es wird im Laufe der Entwicklung vorkommen, daß wirkliche Räte wieder versumpfen, daß sie zu einer neuen Bureaukratie erstarren. Dann wird gegen sie der Kampf genau so rücksichtslos aufgenommen werden müssen, wie gegen die kapitalistischen Organisationen.

Aber die Entwicklung wird nicht stillstehen und das Proletariat kann und wird nicht ruhen, bis es bei der Diktatur des Proletariats angelangt ist. Damit beginnt die zweite Phase der Räteorganisation. Im Kampfe um die kommunistische, also klassenlose Gesellschaft gibt es keinerlei Kompromiß zwischen Kapital und Arbeit; die unbedingte Überwindung der Ausbeuterklasse ist Vöraussetzung für die Entfaltung der proletarischen Klasse zur Trägerin der neuen Gesellschaft. Das Stadium der Diktatur, deren Dauer abhängig ist von dem Verhalten und der Lebensdauer der alten Mächte, ermöglicht den Übergang. Die proletarische Klasse übt die Diktatur aus, indem sie über alle politischen und wirtschaftlichen Einrichtungen der Gesellschaft ausschließlich in ihrem Interesse verfolgt. Das Instrument hier sind die Räte. Erst so wird der Aufbau des kommunistischen Gemeinwesens möglich. Das ist die dritte Phase des Rätesystems. Das Schwert wird mit der Kelle vertauscht. Die Wirtschaft wird nach neuen Gesichtspunkten orientiert und organisiert. Die Gesetzgebung kleidet die ökonomischen und sozialen Notwendigkeiten in allgemein verbindliche Form. Die Ausführung und Geltendmachung der neuen Gesetze wird Sache derer die sie schufen: Legislative und Exekutive fällt zusammen. Der gesetzgebende und der verwaltende Körper bilden eine Einheit im Namen und Interesse des Gesellschaftsganzen. Das Organ dieser grossangelegten und durchgeführten Aufbautätifkeit wird das Rätesystem sein.

Das Rätesystem ist zugleich ein Negatives und ein Positives. Ein Negatives, denn es zertrümmert und beseitigt die alten bürokratisch-zentralistischen Organisationsgebildt. den kapitalistischen Staat. Die Profitwirtschaft, die bürgerliche Ideologie, und ein Positives, denn es schafft und formt das Gefüge der neuen Gesellschaftsordnung, die Gemeinwirtschaft, die Föderation der proletarischen Kräfte für den neuen Kulturaufbau, die sozialistische Ideologie. Sein Element ist das Soziale, nicht das Individuelle: seine Mentalität das Gemeinschaftsgefühl, nicht der Egoismus; sein Prinzip das Gesamtinteresse, nicht das Einzelwohl; sein Format die Gesellschaft, nicht die Besitzerklasse; sein Ziel der Kommunismus, nicht der Kapitalismus. Die soziale Grundeinstellung der Räte und ihre Orientierung am Wesen und am Inhalte der sozialistischen Idee ergibt notwendigerweise als Selbstverständlichkeit: volle Öffentlichkeit und unbehinderte Kontrolle aller Amtshandlungen und Verwaltungsfunktionen, radikale Beseitigung aller Bürokratie und Berufsführerschaft, vollkommene Änderung des Wahlverfahrens (Wahl auf Zeit, Rückberufungsrecht, gebundenes Mandat usw., Verlegung des Schwergewichtes aller wichtigen Entscheidungen in den Massenwillen, Aufbau der Erziehung auf der Grundlage der gesellschaftlichen Produktion, Revolutionierung der gesamten Ideologie im Sinne des sozialistischen Prinzips.

Die Räteorganisation bedingt vor allem auch eine neue Taktik.

Die bürgerlichen Revolutionen wurden auf der Straße auf den Barrikaden, mit militärischen Waffen und Heeren ausgefochten. Armeen aber und militärische Gewalt sind bürgerliche Mittel auch dann wenn sie von Arbeitern gebildet werden. Die Armee wurde ‚ja auch in der bürgerlichen Zeit von Proletariern gebildet. Auch eine Rote Armee ist eine zentralistisch aufgebaute, autoritäre im Grunde bürgerliche Kampforganisation. Man braucht da Führer mit ungeschränkter Befehlsgewalt irnd Mannschaften mit unbedingtem Gehorsam. Disziplin wird durch Gewalt erzeugt: wenige müssen über viele herrschen. Eine Revolution mit Militär, mit Armeen machen, würde heissen: Proletarier wollen das Bürgertum mit bürgerlichen Mitteln überwinden. Wäre dies möglich, hätten auch die Parlamentaristen recht, wenn sie das Parlament für ein revolutionäres Mittel halten. Kein Vertrauen zum Parlament kein Vertrauen zur Armee. Wir bringen auch gar keine bürgerliche Armee zusammen. Zunächst haben wir keine Waffen. Ein paar Maschinengewehre vertreiben alle Flinten- und Revolverhelden. Besonders ist es lächerlich mit unserem Menschenmaterial gegen ein bürgerliches Heer ankämpfen zu wollen, das straff zentralistisch auf dem Kadavergehorsam der Mannschaften beruht. Für einen solchen Kampf sind Revolutionäre zu selbständig und aufgeklärt. Die Genossen beugen sich nicht mehr unter blinde Disziplin, sie sind freiere Menschen — daher aber sind sie auch nicht so brauchbar und so leistungsfähig wie eine Armee. Auf bürgerlichem Kampfboden sind die Bürger uns überlegen, beim Militärr wie am Verhandlungstisch und im Parlament. Daraus lernen wir, daß wir uns nicht auf bürgerlichen Kampfboden begeben dürfen, sondern das Bürgertum zwingen müssen, auf unseren Kampfboden zu kommen: in den Betrieb.

Wir haben begriffen, daß die proletarische Revolution in erster Linie eine ökonomische Angelegenheit ist. Der partei-ideologisch eingestellte Arbeiter denkt zuerst an die Eroberung der politischen Macht. Das ist falsch. Die Eroberung der politischen Macht hat nichht ohne weiteres zur Folge, daß dem Sieger auch die ökonomische Macht zufällt. Die Erfahrungen von 1918 haben dies bewiesen. Wie andererseits auch die Eroberung der ökonomischen Macht nicht zugleich die politische Macht als reife Frucht in den Schoß fallen läßt. Für diesen Aberglauben haben die italienischen Syndikalisten schwer büßen müssen. Man muß sich immer vor Augen halten, daß politische und Staatsgewalt Sicherungsmaßnahmen der wirtschaftlichen Interessen sind, Heer, Justiz, Verfassung, Kirche, Schule - alles dient zur Sicherung des Kapitals und Profits. Der politische Überbau ist das Zweite, die Wirtschaft das Erste. Von der Wirtschaftsbasis aus muß der Kampf geführt werden. Im Einzelnen gibt es dafür kein Rezept. Aber die Revolutionäre müsssen sich zuerst der Betriebe und ihrer Funktionen bemächtigen. Kontrolle, Beteiligung an der Kalkulation und Disposition, Mitbestimmungsrecht, Übernahme der Betriebe sind, je nach der Situation, vieleicht die Etappen, die in revolutionären Zeiten rasch aufeinander folgen können. Im Zusammenhange damit müssen die Apparate der Staats- und Gemeindeverwaltung, der Justiz, der Polizei, des Heeres, der Schule usw. Erschüttert werden, nicht so sehr durch den Ansturm von außen, der, weil er als fremd und feindlich empfunden wird, meist einer schlossenen Abwehr begegnet, als vielmehr durch den zähen, unermüdlichen Kampf im Innern, der dem wachsenden inneren Zerfall selbst entspringt und durch ihn genährt wird. Dieser innere Kampf kann aber nur geführt werden wenn Räte vorhanden sind. Sie sind das Ferment, das beständig die Gärungen und Konflikte im Innern erzeugt, sie weiter treibt, unausgesetzt schürt, bis der offene Ausbruch Kampfes erfolgt.

Daneben mag es noch Straßenkämpfe geben, mögen bewaffnete Massen aufeinander stoßen und nach den Gesetzen und Regeln bürgerlicher Kriegführung um die Übermacht ringen — sie werden nicht die entscheidenden Kämpfe darstellen. Das Schwergewicht der Entscheidung wird bei den Kämpfen in den Betrieben liegen. Hier haben die Massen ihren Kampfboden unter den Füßen: hier wissen sie am besten Bescheid: hier sind sie in ihre in Element. Hier finden schließlich auch die Straßen- und Barrikadenkämpfe immer wieder den erforderlichen Rückhalt. Hier allein liegt die Garantie des Sieges.

Aber nur dann wenn die Räteorganisationen zugleich wirtschaftliche und politische Formationen sind, nicht einseitig politisch, wie die Partei, nicht einseitig wirtschaftlich, wie die Gewerkschaften (Syndikalisten eingeschlossen), nicht so verfälschte, gemeingefährliche konterrevolutionäre Weissgarde, wie die gesetzlichen Betriebsräte, womit die Scheidemann-Klique den Bankrott der November Revolution krönte.

Die höchste Vertretung der revolutionären Arbeiterinteressen stellt dem Rätekongreß dar. Er muß aus den Betriebsorganisationen hervorgehen, der organisatorisch und lebendig funktionierende Ausdruck des Arbeitenswillens sein. Es ist ein Unding, daß er von einer Partei oder Gewerkschafteinberufen oder eingesetzt werden könnte. Dann würde er immer nur als Parteifiliale oder Gewerkschaftsanhängsel existieren. Wenn die KPD den Rätekongreß propagiert ohne die Absicht, sofort beim Zustande kommen des Kongresses ihre eigene Existenz aufzugeben, läuft ihre ganze geflissentliche Propaganda auf einen Betrug hinaus. Sie sucht, mit dem Rätekongreß nur ein wirksames Instrument zur Beherrschung der Arbeiter in die Hände der Parteiführer zu bekommen und deren Einfluß über die Lebensdauer der Partei hinaus zu verewigen. In Moskau sehen wir wie der Rätekongreß von Parteignaden ein Marionettenspiel in den allmächtigen Händen der zu Staatswürdenträgern emporgestiegenen Parteimachthaher geworden ist. Darin liegt das Verhängnis der russischen Revolution, die längst — nicht zuletzt um deswillen — aufgehört hat, eine proletarische Sache zu sein. Die Partei muß sich mit der Konstituierung des Rätekongresses als erledigt ausgeben. Ebenso die Gewerkschaft. Ja, auch die Arbeiter-Union, die nach dem Räte-Prinzip aufgebaut ist und die Fleisch und Blut gewordene Propaganda für den Rätegedanken verkörpert, hat ihre Aufgabe damit erfüllt. Vielleicht sind die Arbeiter-Unionen (man unterscheidet die Union der Hand und Kopfarbeiter, eine Gründung der KPD): die Arbeiter-Union der KAPD; die Freie Arbeiter-Union der Syndikalisten und die Allgemeine Arbeiter-Union, Einheitsorganisation, als die konsequenteste und einheitlichste in ihrer programmatischen und organisatorischen Verfassung) falls es noch in bürgerlich-kapitalistischer Zeit neben dem Parlament zu einem Rätekongreß, der natürlich nur eine Vorform des eigentlichen Rätekongresses sein könnte kommen sollte, als Fraktionen dieses Rätekongresses denkbar. In dem Maße jedoch, in dem sie die Wirksamkeit des Rätekongresses durch ihre Tätigheit beinflussen und bestimmen, in dem ihr Wesen in das Wesen des Rätekongresses überfliesst, erledigen sie sich selbst und machen sie ihre Existenz überflüssig. Einstweilen sind die Arbeiter-Unionen sozusagen Platzhalter des Rätesystems. Im Rätesystem selbst lieft die Erfüllung des organisatorischen, verwaltungstechnischen, gesellschaftsbildenden Ideals der sozialistischen Epoche. Mit dem Rätesystem steht und wächst der Sozialismus.


IX. Die proletarische Revolution


Die November-Revolution von 1918 war der letzte Ausläufer der bürgerlichen Revolution von 1848. Sie vollendete die liberal-demokratische Republik, die zu schaffen die Entschlossenheit und Kraft der deutschen Bürger von damals — im Kampfe gegen Feudalbesitz und Füstenmacht — nicht ausgereicht hatte. Um das Schiff der durch den Weltkrieg aufs äußerste gefährdeten Bourgeosie vor dem Untergange zu bewahren, warf sie den letzten feudal-monarchisch-absolutistischen Ballast, den sie seit 70 Jahren mit sich herumgeschleppt hatte und der ihr jetzt ernstlich zum Verhängnis zu werden drohte, kurz entschlossen über Bord. Damit war eine Verständigungs- und Verhandlungsbasis mit den west- europäischen Kapitalmächten, besonders mit den demokratisch-republikanischen Siegerstaaten Frankreich und Amerika geschaffen. Indem die Bourgeoisie sich eine bürgerlich-freiheitliche Verfassung gab unde die Regierung selber in die Hand nahm, ermöglichte une erzielte sie ihre neue Konstituierung. Ihre Retung, feilich, im Sinne der Idee des kapitalistischen Nationalstaates, kam zu spät. Die deutsche Bourgeoisie während sie den Schlußstein zur Vollendung ihrer bürgerlich-kapitalistischen Staates hinzufügte und endlich das Werk republikanisch-demokratischer Verselständigung dekrönt sa, musste in diesem Augenblicke ihre ökonomische Selbsständigkeit aufgeben und sich das Maß ihrer politischen Freiheit von den Siegerstaaten diktieren lassen. Dann ist die Tragik versäumter Gelegengeit und verspäteter Courage.

Das deutsche Proletariat hat zu einem Teil die Revolution weiterzutreiben versucht. Von Liebknecht bis Hölz hat es in zahlreichen, kraftvollen, ja heroischen Erhebungen alles augeboten, um aus der bürgerlichen Revolution eine soziale Revolution zu machen, Bourgeoisie zu stürzen und den Sozialismus auszurichten, die Schar der Kämpfer hat es an Entschlossenheit und Opferwilligkeit nicht fehlen lassen. Zehntausende sind erschlagen worden, andere Zehntausende sind in Gefängnissen und Zuchthäusern begraben, weitere Zehntausende sind landflüchtig geworde, verfolgt, gehetzt, verschollen und zugrunde gegangen. Aber alle Kämpfe, alles Heldentum, alle Opfer haben nicht zum Ziele geführt. Die Revolution ist für das deutsche Proletariat bis auf weiteres verloren.

Sie ging verloren, weil der größte Teil des deutschen Prolelariats unter Führung seiner Partei- und Gewerkschafts-Angestellten den kämpfenden Klassenbrüdern in den Arm, nein in den Rücken fiel. Betrogene ihrer klein-bürgerlichen Ideologie, Gefangene ihrer unrevolutionären Organisationen, Verblendete ihrer opportunistischen Taktik, Verratene ihrer demagogisch-selbstsiüchtigen Führerschaft — mussten sie selbst an der Befreiung und Erhebung ihrer Klasse zu Verrrätern, Saboteuren und Feinden werden. Daß die Bourgeoisie sich ihrer Haut wehrte, zu List und Gewalt griff, um ihre Existenz zu retten, ist selbstverständlich, denn es war ein Gebot der Erhaltung im Kampf von Klasse zu Klasse. Aber daß das deutsche Proletariat, das im Besitze stärksten Organisationen war, das sich rühmte, das geschulteste der Welt zu sein, und das eben erst vier Jahre lang, watend durch ein Meer von Blut und Tränen, die erschreckenden Konsequenzen bürgerlich-kapitalisticher Politik an seinem Leibe erlebt hatte — daß dieses Proletariat in der Stunde der Revolution nichts anderes zu tun wußte und nichts besseres zu tun vermochte, als die Bourgeoisie seines Landes, diese beispiellos brutale, freche, unbelehbare, kulturlose Bourgeoisie, noch einmal zu retten — das ist eine tief beschämende und traurige Konstatierung. Eine Konstatierung, die es, wenn auch nicht gerechtfertigt, so begreiflich erscheinen läßt, wenn Tausende entmutigt und verzweifelt die Flinte ins Korn werfen: diesem Volk von Knechten ist nicht zu helfen!

Und doch verdient dieses Volk nicht unsern Zorn, sonderns unsere Hilfe in seiner Feigheit wie in seinem Unverstande. Ist es doch selbst das Opfer einer Jahrhhunderte langen Knechtschaft, die alles Selbständige und Freie in ihm zerbrach und zerprügelte, und eines einzigen, grossen Betruges, den die Führer immer und immer wieder an ihm verübten. Es muß jetzt duch eine schreckliche Schule des Hungers und der Versklavung hindurch, und wenn unter dem Drucke ders multiplizierten Ausbeutungskraft des Weltkapitals, die ihm den letzten Blutstropfen aus den Adern presst, zunächst auch alle schlechten Instinkte und Laster der entarterten Kreatur zum Ausbruch kommen, so wird dis Schule der Plagen zulezt doch eine Schule der Einnicht und der politischen Erweckung werden.

Das deutsche Proletariat muß endlich erkennen, daß die proletarische Revolution keine Partei- und Gewerkschaftssache ist, sondern ein Werk der ganzen proletarischen Klasse.

Das deutsche Proletariat muß endlich darangehen, diese proletarische Klasse in den Stätten ihrer Fronarbeit für die Aufgabe Revolution zu sammeln, zu schulen, zu ordnen, in Marsch zu setzen, in den Kampf zu führen.

Das deutsche Proletariat muß sich endlich dazu entschließen, das Halfterband seiner Führerschaft abzustreifen und das Werk seiner Befreiung selbst in die Hand zu nehmen, um es mit eigenen Kräften und Mitteln, nach eigener Initiative und unter eigener Führung zu vollenden.

Die Weltgeschichte läßt uns Zeit, bis alle Kräfte gereift sind für die Aufgabe, die sie uns stellt.

Die Parlamente werden immer mehr zu leeren Attrappen; die Parteien zerfallen, reiben sich gegenseiting auf und verlieren ihren politischen Kredit: die Gewerkschaften verwandeln sich in Ruinen. Der Zusammenbruch auf der ganzen Linie dieses organisatorischen und politischen Systems ist unaufhaltsam.

Proletarische und kleinbürgerliche Schichten erkennen in wachsendem Masse, daß sie Opfer überständiger Parteiwirtschaft, wenn nicht Opfer parteipolitischer und gewerkschaftlicher Bauernfängerei geworden sind und wenden sich, da sie im Innersten doch an die Berechtigung und Zukunft der sozialistischen Idee glauben, Bewegungen zu, die ihnen eine Befreiung ohne Kampf, ein Paradies ohne eigenes Zutun vorgaukeln: der Anthroposophie von Rudolf Steiner, der Freiland-Freigeld-Bewegung von Silvio Gesell, den Werkgemeinschaften, die den Rätegedanken verballhornen, dem Nazionalsozialismus von Adolf Hitler, dem Bund der Rebellen, die jede Organisation verneinen, oder den Ernsten Bibel-Forschern die auf Diesseits-Jenseits hoffen. Sie alle gehen an der Irre: ihr Weg ist voll Enttäuschung; sein Ende ist das Nichts.

Es bleibt einzig und allein der Klassenkampf, auf breitester Wirtschaftsbasis aufgerollt, alle proletarischen Energien auslösend und zur sozialen Revolution gesteigert, der zum sozialistischen Ziele führt. Der Klassenkampf in dem das Proletariat zugleich Führer und Masse, Generalstab und Armee, Hirn und Arm, Idee und Bewegung, Impuls und Erfüllung ist.

Die Bahn dieses Klassenkampfes ist ein Stück Weltgeschichte. Sie verbindet feudale Vergangenheit über kapitalistische Gegenwart hinweg mit sozialistischer Zukunft. Alle Ausbeutung und Herrschaft lässt sie hinter sich. Sie führt ins Freie.

Auf diesen Bahn folgt uns, Genossen!
Wir haben eine Welt zu gewinnen!

Originaltext: www.anarchismus.at und www.left-dis.nl/d/prolrev.pdf