Arbeiterkontrolle in Venezuela

Reportage über 1. nationales Treffen zur Arbeiterkontrolle im Mai 2011 in Puerto Ordaz

Die Arbeiterbewegung, die in Venezuela heute in Erscheinung tritt, ist noch jung. Sicher hatten ihre Vorläufer, ebenso wie die europäische Arbeiterbewegung, auch ihre Bezüge auf die Oktoberrevolution in Russland. Aber die venezolanische Arbeiterbewegung, wie insgesamt die des lateinamerikanischen Kontinents, hat Besonderheiten, die einen
„europäischen Blick“ auf sie verbieten.

Die Kolonisierung brachte der indigenen Bevölkerung die Erfahrung der Zwangsarbeit. Die Afrikaner kamen in den Ketten der Sklaverei auf den Kontinent. Diese Geschichte und die ungebrochene Rolle des Grossgrundbesitzes schreiben sich bis heute in das Bewusstsein von der Arbeit ein. Dazu kommen die Abhängigkeiten der Ökonomie im internationalen Rahmen von Handel und Industrie, die eine nationale produktive Ökonomie nie entstehen liessen. In Venezuela hat zusätzlich der Ölrenten Kapitalismus die Arbeiterbewegung beeinflusst.

Mit dem Beginn der Bolivarischen Revolution haben auch die Arbeiterkämpfe in
Venezuela eine neue Dynamik entwickelt. Man muss bedenken, dass das Jahr 1989
und eine Revolte der ärmsten Bevölkerungsteile in Caracas und anderen Städten (der „Caracazo“) gegen die Auswirkungen der IWF-Rezepte ein Schlüsseldatum für alles Kommende war. In Europa herrschte zur gleichen Zeit Resignation und die Abgesänge auf revolutionäre Veränderungen kamen in Mode. Die Bolivarische Bewegung entwickelte hingegen seitdem den historischen Optimismus einer Gesellschaft im Aufbruch. Die junge venezolanische Arbeiterbewegung schöpft ihr Selbstbewusstsein zu
einem guten Teil aus den Erfolgen der Belegschaften der Ölindustrie während des „Ölstreiks der Bosse“ Ende 2002. In diesen Kämpfen mussten die korrumpierten Arbeiterorganisationen der 4. Republik – vor allem die Gewerkschaftszentrale CTV (Conféderación de Trabajadores de Venezuela) – ebenso besiegt werden wie die nationalen und internationalen Bosse der kapitalistischen Ölwirtschaft.

Gegen Ende des Jahres 2002, nur ein halbes Jahr nach dem gescheiterten Putsch gegen Chávez, wurde ein Ölstreik in Szene gesetzt, der nichts anderes war als eine veränderte Methode für das gerade erst verfehlte Ziel: Chávez auszuschalten und seine Regierung zu stürzen. Dazu griff die alte Führung der venezolanischen Ölwirtschaft zu dem Mittel, die gesamte Produktion lahmzulegen. Die externe Firma Intesa, mehrheitlich im Besitz eines großen US-amerikanischen Informatik-Konzerns, die das Computersystem des venezolanischen Öl-Konzerns PDVSA verwaltete, legte jede Datenverarbeitung lahm. Ohne die Datenbasis der Produktion, des Einkaufs und Vertriebs konnte nicht mehr weiter produziert werden. Bald darauf legten die Kapitäne der PDVSA-Tankerflotte 13 Schiffe lahm.

Schon bald wurde im Land das Benzin für Transport und Privatverkehr knapp. Vollgeladene Tanker wurden zu treibenden Zeit  Bomben in der Nähe von Küsten und Städten. Moderne Tanker sind technologisch hochkomplexe Gebilde, eine Sabotage ihrer Maschinen und Computer-leitsystemen ist von Aussenstehenden kaum zu beheben. Die alte technokratische Elite des Ölkonzerns war sich sicher, unersetzbar zu sein sind, dass Chávez seinen Rücktritt nicht würde vermeiden können.

Nach Wochen andauerndem Notstand kam dann jedoch alles anders. Nachdem
mehrere Versuche gescheitert waren, brachte in einem weiteren Anlauf eine neue Notbesatzung unter großem Risiko endlich den gefährlichsten sabotierten Öltanker „Pilín León“ im Maracaibosee, dem riesigen Binnensee in der Öl-Region Venezuelas, wieder in Fahrt. In den Öl-Produktionsstätten verbliebene Arbeiter, Freiwillige, Techniker und Informatiker, setzten in der Folge auch die Ölproduktion selbst nach und nach wieder in Gang. So wurden der Dezember 2002 und der Januar 2003 für die
venezolanische Gesellschaft und die Arbeiterschaft ein fast mythologisches Ereignis.

Die venezolanische Arbeiterbewegung profitiert selbstverständlich außerordentlich davon, dass inzwischen eine Regierung existiert, die eine sozialistische Agenda oder Debatte aufgelegt hat. Das hat große Auswirkungen, auch wenn man in Betracht zieht, dass der Prozess viele Widersprüche und Hemmnisse zeigt und die Glaubwürdigkeit der Repräsentanten der Regierung von Aktivisten der Arbeiterbewegung unterschiedlich eingeschätzt wird. Die Räume der Organisierung, der politischen Bildung und der Selbstverständigung sind für die Aktivisten der Arbeiterbewegung heute so frei wie nie zuvor in Venezuela. Alte Aktivisten erzählen davon, dass sie bis 1998 nur die Illegalität und Halb-Klandestinität kannten. Repression und auch tödliche Angriffe auf Arbeiteraktivisten gibt es zwar immer noch, dies ist heute aber nicht mehr
Regierungspolitik. Vor allem in den ländlichen Regionen existieren immer noch irreguläre Kräfte der Oberschicht des Landes, die für meist straflos bleibende Morde eingesetzt werden. Auch innerhalb der Strukturen der regierenden Partei PSUV gibt es repressive Tendenzen, die auf lokalen und regionalen Ebenen gegen die Campesino- und Arbeiterbewegung zum Zuge kommen. Die neuen Freiheiten mag der europäische Leser sich einmal ausmalen, wenn er sich die „Förderung“ vorstellt, die in Europa Arbeiter genießen, die Betriebe besetzen, autonome Arbeiterräte und Arbeitermilizen organisieren und die generelle Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter als Ziel
setzen!


In der Region um Ciudad Guayana im Bundesstaat Bolívar ist die venezolanische Basis- und Schwerindustrie angesiedelt. Zugleich ist hier das bedeutendste Zentrum der jüngeren venezolanischen revolutionären Arbeiterbewegung. Nachdem Belegschaften schon mehrere Jahre in autonomen Kämpfen Veränderungen eingeleitet, Fabriken besetzt und in eigene Regie übernommen hatten, kam Präsident Hugo Chávez im Mai 2009 nach Ciudad Guayana und ermutigte in einer Versammlung die Arbeiter in ihren Bestrebungen. Er verkündete den Sozialistischen Plan Guayana 2009 bis 2019, der auch die Durchsetzung der Arbeiterkontrolle und die Wahl der Betriebsleitungen durch die Belegschaften in den schon nationalisierten Betrieben auf die Tagesordnung setzte. Der Plan sieht die vollständige Umstrukturierung der Stahl- und Aluminiumproduktion gemäss den Interessen des Landes unter Führung der organisierten Arbeiter vor. Chávez gab bei diesem Anlass auch die Nationalisierung weiterer 9 Unternehmen der Region bekannt, darunter Ceramica Carabobo, das seit 8 Monaten von den Arbeitern besetzt war.

Seit diesen verschiedenen Initialereignissen bewegt sich eine äußerst widersprüchliche Dynamik zwischen Ermutigungen durch Chávez, traditionellen Strukturmängeln der venezolanischen Ökonomie, Produktivitätsmängeln, Sabotage seitens der traditionellen Rechten und auch der „endogenen Rechten“ der bolivarischen Bewegung, Begehrlichkeiten der PSUV als Staatspartei, Angriffen durch die USA und anderer internationaler reaktionärer Kräfte, ideologischer Rückständigkeit der Arbeiterschaft und einer sich radikalisierenden Avantgarde in der Arbeiterbewegung. Präsident Chávez genießt unter Aktivisten besonderes Ansehen, weil er immer wieder
die Konfrontation mit der ökonomischen Elite eingeht, um eine Entwicklung der nationalen Ökonomie zu ermöglichen, die die akuten Bedürfnisse der armen Bevölkerung befriedigt und perspektivisch die Bestimmung der Produktion an gesellschaftlichen Zielen ausrichten soll. Mit besonderer Betonung werden Aussagen von Chávez berichtet, mit denen er sich für die Arbeiterkontrolle aussprach und die PSUV aufforderte, sich aus dem Prozess der Organisierung der Arbeiterschaft heraus zu halten.

Um die Idee und die Realisierung der Arbeiterkontrolle toben die heftigsten
Klassenkämpfe. Ebenso wie um die Politik der Regierung, gegen die Interessen des nationalen und transnationalen Kapitals eine Souveränität des Landes in den strategischen Industrien, eine bezahlbare Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung und eine demokratische Medienstruktur durchzusetzen.
In den verschiedenen Teilen des Landes befindet sich der Aufbau der Arbeiterkontrolle in völlig unterschiedlichen Stadien. Das reicht von reinen Absichten über ein Modell der Arbeiterkontrolle, dem immer noch von den zuständigen Ministerien eigenmächtig Instanzen übergeordnet werden, bis hin zu weiter fortgeschrittenen Modellen; von auf Dauer unhaltbar subventionierten bis hin zu auch ökonomisch schon funktionierenden Modellen. Aber an allen Orten kann man als Fingerzeig für eine gute Perspektive ansehen, welche Schritte zur Fortbildung der Belegschaften, die diese zur Unternehmensführung befähigen, gemacht werden. Eins von mehreren Beispielen ist die 2009 auf dem Gelände des Eisen- und Stahlwerkes Sidor errichtete Arbeiter-Universität, die Voraussetzungen in dieser Hinsicht schaffen soll. Hier sind auch die Regierungs-programme Misión Ribas und Misión Sucre eingebunden, die Arbeiter auf ein Hochschulstudium vorbereiten.

Nicht nur regionale Besonderheiten, auch die Größenordnung von Unternehmen hat für die Realisierung von Arbeiterkontrolle eine ausserordentliche Bedeutung. Die Komplexität aller Aspekte der Produktion nimmt mit der Größe von Produktions-einheiten zu und muss von den Belegschaften beherrscht werden. Ebenso nehmen mit der Größe der Produktion und der Verwendung strategischer Rohstoffe in ihr die Begehrlichkeiten von Kräften zu, die der Emanzipation der Arbeiter feindlich gegenüberstehen.

Grafitos del Orinoco ist ein mittelgroßer Betrieb in der Region, der, ursprünglich als Schweizer Unternehmen, seit 1986 auf hohem technologischen Niveau Werkstücke aus Graphit produzierte. Im Oktober 2009 begannen die Arbeiter einen Kampf um höhere Löhne und für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Die alte Gewerkschaft von Grafitos war „patronal“ (gelbe Gewerkschaft). Nach 23 Jahren gründete die Belegschaft eine neue Gewerkschaft, die die alte hinaus warf und sich auf das Ziel kollektiver Arbeitsverträge verständigte. Es kam zu keiner Einigung, die Eigentümer schlossen vielmehr am 23. Oktober die Fabrik. Daraufhin besetzten die etwa 60 Arbeiter sie. Die Unternehmensleitung reagierte mit Sperren von Strom und Wasser. Nachdem die Besetzung zunächst nur für die ursprünglichen Belange gemacht wurde, entwickelte sich im Kampf bald die weitergehende Forderung an die nationale Regierung, einzugreifen und den Besitzer der Fabrik zu enteignen. Die Arbeiter würden die Kontrolle übernehmen.

Es folgten 7 Monate Kampf ohne Lohnzahlungen. Das Überleben gelang nur durch
die Solidarität der Comunidad und der Arbeiter anderer Betriebe. Die harten
Konsequenzen für sich und ihre Familien ließen zum Schluss nur noch 18
Besetzer übrigbleiben.

Im Mai 2010 erreichten die Arbeiter die Anerkennung durch das Arbeitsministerium, das per Dekret bestimmte, dass die Fabrik den Arbeitern übergeben und der Prozess der Nationalisierung in Gang gesetzt wird. Die erste legale Form war zunächst noch eine gemeinsame Verwaltung durch Vertreter des Ministeriums und der Arbeiter. Zum 1. Juni 2010 konnte die Produktion wieder gestartet werden, zum 15. Juni gab es zum ersten Mal wieder Lohn. Die Arbeiter schufen sofort kollektive Arbeitsverträge, mit einem Einheitslohn und verschiedenen sozialen Regelungen.

Ab August 2010 wird die Fabrik schließlich von einem Fabrikkomitee geleitet, das aus 9 von der Belegschaft gewählten Arbeitern besteht. Sie werden, um der Bürokratisierung vorzubeugen, für höchstens 1 Jahr gewählt und sind jederzeit durch die höchste Instanz der Arbeiterkontrolle, die Generalversammlung der Belegschaft, abwählbar. Die Verfasstheit der Arbeiterkontrolle sieht vollkommene Transparenz aller betriebsinternen Informationen und Daten für die gesamte Belegschaft vor. Kapital-bewegungen, Investitionen, Ausgaben müssen von allen Mitgliedern des Fabrik-komitees unterzeichnet werden.

Vertreter der Belegschaft erklären, dass es weiterhin eine Gewerkschaft gibt und dies auch so bleiben wird. Sie setzt sich im engeren Sinn für Verbesserungen der Arbeits-bedingungen ein. In ihrem Betrieb funktioniere das Zusammenspiel gut. Aus anderen Betrieben wird häufig von Konflikten zwischen Organen der Arbeiterkontrolle und Gewerkschaften berichtet oder davon, dass allgemein noch eine Konfusion über die Rolle der einen wie der anderen herrscht.

Ein Prinzip der Arbeiterkontrolle ist auch die enge Zusammenarbeit mit den organisierten Comunidades im Umfeld der Betriebe. So wie in den Arbeitskämpfen die Erfahrung lebendig ist, dass die Belegschaften oft nur durch die Unterstützung der Comunidades überleben und siegen konnten, gehört zum Selbstverständnis auch die Zielsetzung, die Produktion perspektivisch an gesellschaftlichen Bestimmungen statt an denen des kapitalistischen Marktes auszurichten. Dazu muss die Kommunikation und Organisierung zwischen Produktion und Comunidades entwickelt werden.

Bei Grafitos del Orinoco arbeiten heute wieder 70 Arbeiter. Es ist geplant, ihre Zahl auf 120 auszuweiten. Die Produkte gehen hauptsächlich in die Produktionsprozesse der umliegenden Stahlwerke. Ihr Betrieb bezieht keine staatlichen Subventionen. Durch Übernahme von vielen Instandsetzungsarbeiten an der Produktionsanlage in Eigenarbeit konnten die Ausgaben in diesem Bereich um die Hälfte gesenkt werden.

Ein Vertreter der Belegschaft berichtet von ihrem Lernprozess: mit der neuen Struktur sitzt der Feind nicht mehr mit im Betrieb; die Arbeiter dächten nicht mehr nur über Lohnerhöhungen nach, sondern lernten, mit allen Aspekten der Produktion umzugehen; der Prozess der Aneignung der Fähigkeiten, den Betrieb zu leiten, würde als Anfang der Aufhebung der sozialen Spaltung der Arbeit erfahren; jeder einzelne Arbeiter bekommt eine viel umfassendere, auch politische Bildung, die historische und
internationale Dimensionen einschließt. Im Vergleich zu größeren Betrieben, wo die Arbeiterkontrolle oft noch in technokratischem, bürokratischem Geist angegangen werde, hätten sie, als kleinerer Betrieb, sie als demokratische Vision viel weiter entwickeln können. Innerhalb kurzer Zeit hätte sich ihr eigener Horizont, das Geld für die Familie nach hause bringen zu müssen, dahin verändert, dass sie jetzt die gesamte Verantwortung tragen und beweisen, dass das auch geht.

Sie seien sich darüber im Klaren, dass sie ihre Erfahrungen weitergeben und mit anderen Arbeitern sprechen müssen, weil ihr Versuch nicht Bestand wird haben können, wenn sie Inseln bleiben. Man müsse sich klar sein, dass das Bewusstsein bei vielen Arbeitern immer noch sehr individualistisch ist, und dass es ein Kampf ist, dies zu verändern.

Ein Beispiel dafür, wie schwierig und widersprüchlich der Prozess zur Arbeiterkontrolle bei großen Dimensionen und unter hoch komplexen Bedingungen verläuft, ist das Eisen- und Stahlwerk Sidor – Siderúrgica del Orinoco Alfredo Maneiro*, das größte Stahlwerk Lateinamerikas. Bei Sidor arbeiten etwa 13000 Menschen. Diese Zahl muss man noch dazu ins Verhältnis setzen, dass viele Produktionsprozesse automatisierte Abläufe haben. Für die Arbeiter der Firma gibt es ein eigenes Transportsystem zur und von der Arbeit, sowie für die Bewegung innerhalb des Geländes. Der „Busbahnhof“ und der Fuhrpark an einem der Tore sind so groß, dass es für eine Kleinstadt reichen würde. Sidor betreibt ein eigenes Elektrizitätswerk.

Ursprünglich schon einmal staatlich, wurde Sidor 1997 im Rahmen neoliberaler Privatisierungs-Politik an einen italienisch-argentinischen Multi verkauft, 20 % blieben im Besitz des venezolanischen Bundesstaates Bolivar.


In der privatisierten Phase nahmen die Arbeitsunfälle stark zu, 19 Arbeiter und Arbeiterinnen kamen ums Leben. Im Januar 2007 begannen Kämpfe der Sidor-Arbeiter mit den Forderungen nach Kollektivverträgen unter Einbeziehung der Arbeiter mit befristeten Verträgen, nach Re-Verstaatlichung und besserer Arbeitssicherheit. Die Streiks und Besetzungsaktionen wurden zeitweise von der Nationalgarde auf Befehl des damaligen (und heutigen PSUV-) Gouverneurs Rangel Gomez brutal unterdrückt. Die Kämpfe der Arbeiter führten nach 15 Monaten, im April 2008, zur Entscheidung der Regierung Chávez, Sidor zum 1. Mai wieder zu nationalisieren.

Die gesamten Auseinandersetzungen waren begleitet von scharfen Kampagnen der
rechten Medien und auch von Widerständen der „endogenen Rechten“ in der PSUV. Mit der Entscheidung zur Nationalisierung war noch nicht gleichzeitig geklärt, ob auch die Forderungen der Arbeiter nach Kollektivverträgen erfüllt würden. Dies geschah nach weiteren Auseinandersetzungen erst Mitte Mai 2008. Die Ausarbeitung und Unterzeichnung des endgültigen Kontrakts nahm Präsident Chávez selbst gemeinsam mit Arbeitervertretern in die Hand. Schließlich steht seit 2010 ein von den Arbeitern gewählter und von Chávez eingesetzter Arbeiterpräsident an der Spitze von Sidor.

Die Größe von Sidor und die strategische Bedeutung der Produktionsstätte sind Gründe für verschiedene Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Arbeiterkontrolle. Einerseits sind die technischen, wissenschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Anforderungen an die Fähigkeiten der Arbeiter zur Leitung enorm hoch und die Fortbildung in dieser Hinsicht steckt noch in den Anfängen. Andererseits weckt die Bedeutung der Produktionsstätte viele Begehrlichkeiten derjenigen in der PSUV, die die Partei nicht in ihrer Funktion für die Revolution begreifen, sondern diese als Staatspartei haben wollen, die Posten und persönliche Einfluss- und Kontroll-möglichkeit bietet. Die klassenbewussten Arbeiter identifizieren diese Kräfte als
Hindernis und als Sabotage des Prozesses zur Arbeiterkontrolle. Die Auseinander-setzungen sind alltäglich und hart. Weiterhin natürlich auch mit den Gegenkräften aus der traditionellen Rechten. Diese werden zum Beispiel als Urheber einer Sabotage im Jahr 2009 angesehen, die mit einem Brand in den Produktionsanlagen und 400 Millionen Dollar Schaden den ganzen Prozess weit zurückwarf.

Ein Schlaglicht auf die Konfliktlinien wirft die Festnahme des Direktors für Vermarktung bei Sidor, Luis Velásquez, am 9. Juni 2011. Sidor-Arbeiter hatten ihn angezeigt. Das PSUV-Mitglied Velásquez wird beschuldigt, als zentrale Figur eines illegalen Netzwerkes Sidor-Produkte, die aktuell große Bedeutung für die Vorhaben der Regierung im Wohnungsbau des Landes haben und deren Preise staatlich festgelegt sind, auf dem privaten nationalen und kolumbianischen Markt zu dreifach erhöhten Preisen verkauft zu haben. 

Arbeitervertreter weisen darauf hin, dass Velásquez durch das Ministerium für Basisindustrie nicht nur hohe Funktionen in weiteren Unternehmen der staatlichen Schwerindustrie zugewiesen bekommen hat. So war er Präsident von Orinoco Iron und in den Übergangsverwaltungen von Briqven und Iron Mining. Er gilt auch als enger Vertrauter des PSUV-Gouverneurs des Bundesstaates Bolívar, Francisco Rangel Gómez. Die Aufnahme der Ermittlungen, die immer weitere Kreise ziehen, scheint ein Ergebnis des Drucks der Arbeiterkontrolle zu sein, deren Aktivisten seit Jahren auf die Realisierung der völligen Transparenz aller Aspekte der Produktion in den  nationalisierten Betrieben der Schwerindustrie drängen und verschiedene Anzeigen über Unregelmäßigkeiten vorgebracht hatten.

Arbeiter bei Sidor sagen kritisch: heute gibt es noch die gleichen Führungsstrukturen wie früher. „Nur“ mit den Unterschieden bisher, dass an der Spitze ein von ihnen gewählter Arbeiterpräsident und eine neue Leitung stehen, dass es die geänderten Arbeitsverträge gibt und die Arbeitsgruppen, die hier eingerichtet sind, um den Rahmen für die Arbeiterkontrolle und eine sozialistische Produktion im Eisen-, Stahl- und Aluminium-Bereich, den Plan Guayana Socialista, zu diskutieren und auszuarbeiten. Daran arbeiten gegenwärtig 30 „Arbeitstische“ (Arbeitsgruppen). Aber auch der Kampf um die Veränderung des Bewusstseins der gesamten Belegschaft sei ungeheuer schwierig. Zwischen dem Kampf für höhere Löhne und bessere Arbeits-bedingungen und der vollständigen Übernahme der Verantwortung für den ganzen Betrieb unter Arbeiterkontrolle würden Welten liegen.

Auf dem Gelände von Sidor fand vom 20. bis 22. Mai diesen Jahres auch das Erste Nationale Treffen für Arbeiterkontrolle statt. Etwa 900 Aktivisten waren gekommen.

Die Idee zu einem Treffen, das die Arbeiter aus dem gesamten Landzusammenführt, entstand aus den Zusammenhängen in der Region der Schwerindustrie im  Bundesstaat Bolívar, die auch die Vorbereitung des Treffens übernahmen. Für die Arbeiterkontrolle würde es keine Fortschritte geben, wenn die Arbeiter sich nicht selbst artikulieren und über ihre Erfahrungen überregional und überbetrieblich austauschen. Es ginge um die “Erfahrungen hinsichtlich der Fortschritte, Hindernisse und
Herausforderung an der Arbeiterkontrolle im Prozess ihrer Anwendung”, so ein Einladungstext. Das allgemeine Ziel des Treffens müsse der “Aufbau einer Bewegung permanenten Charakters“ sein, „die die venezolanische Arbeiterklasse artikuliert und organisiert, mit einem autonomen Kampfplan, der die Arbeiterkontrolle konsolidiert – darauf orientiert, die Ökonomie unter ein Modell der sozialistischen Leitung zu bringen”. Grundsätze für die Bildung von Arbeiterräten sollten definiert werden, um die Debatte für das Neue Arbeitsgesetz und das Gesetz über die Arbeiterräte  vorzubereiten und das Bewusstsein der Arbeiter über die Arbeiterkontrolle zu heben. Der Kampfplan umschreibt den Vorschlag der Bildung eines nationalen und internationalen Netzwerkes, das den Austausch über Vorschläge für die politisch-soziale Kontrolle der Ökonomie ermöglicht. Darüber hinaus solle eine sozialistische Führung der Ökonomie sondiert werden, in der die Arbeiterräte, die organisierte Comunidad und der Staat in einem Kontext des Übergangs definiert werden.

Das Treffen erforderte viel organisatorische Vorbereitung und zeigte große methodische Talente der Arbeiter, die der Diskussion Struktur und eine überzeugende Zielstrebigkeit gaben. Die Verpflegung für 900 Menschen an zweieinhalb Tagen wurde zum größten Teil erst kurzfristig aus den Kantinen umliegender großer und mittlerer
Unternehmen requiriert. Die Übernachtungen wurden aus dem Stand bei den Arbeiterfamilien von Ciudad Guayana und in einigen Herbergen organisiert. Am
Rande der Arbeitstreffen fanden verschiedene kulturelle Events statt, die regionale Musik der Campesinos, afro-venezolanische Musik und Arbeiter-Hiphop aufführten.

Die inhaltliche Arbeit wurde in 30 Arbeitstischen organisiert, an denen die Arbeiter jeweils die Erfahrungen mit der Arbeiterkontrolle in ihren Betrieben in disziplinierten 10 Minuten am ersten Tag, in 5 Minuten am zweiten Tag darlegten. Auf diese Weise kam jeder zu Wort und die Beiträge wurden auf den Punkt formuliert. Die Konzentration der Teilnehmer von Anfang bis Ende des Treffens war gross.

Drei Fragestellungen bestimmten die inhaltliche Struktur der Diskussion: 1. welches sind die Widersprüche, die beim Aufbau der Arbeiterkontrolle und der Arbeiterräte auftauchen; 2. welche Ideen und Prinzipien braucht es, um die politische Aktion der Arbeiterklasse zu orientieren; und 3. welche Vorschläge gibt es in politischer, organisatorischer, programmatischer, rechtlicher, ökonomischer und sozialer Hinsicht.

Zum ersten Punkt wurde dargestellt, dass die Bürokratie, die noch den bürgerlichen Staat vertritt, ein großes Hindernis für Fortschritte ist. Es existieren Regeln und Normen im System und im Produktionsprozess, die die Partizipation der Arbeiter ausschließen und die Bürokratie befördern. Noch besteht eine kapitalistische Planung in der Struktur des Staates fort. Es gibt eine Verteufelung gewerkschaftlicher Strukturen. Es gibt Akademismus als unerreichbare Anforderung, um Ämter in der Leitung der Arbeiterräte, in den Gewerkschaften oder Unternehmensstrukturen besetzen zu können. Es herrscht ein Mangel an Orientierung der Arbeiter darüber, was Arbeiterkontrolle ist. Vertikale Strukturen unterbinden das Recht der Arbeiter auf protagonistische Partizipation. Es herrscht Inkohärenz zwischen Diskurs und Praxis einiger Führer. Strukturen von Arbeiterkontrolle werden formal verfestigt ohne einen
Wechsel der Paradigmen. Wahlprozesse für die Arbeiter werden initiiert, ohne
zuvor die Diskussion zur Lösung von Konflikten zu vertiefen, die durch die Spaltung zwischen den Arbeitern hervorgerufen werden.Trotz Kämpfen gegen den Kapitalismus wird das System der Lohnabhängigkeit nicht infrage gestellt. Selbst in der Region der Schwerindustrie um Ciudad Guayana gibt es an der Basis der Arbeiterklasse nicht immer eine Mehrheit für die Idee der Arbeiterkontrolle. Viele Gewerkschaften, auch neu gebildete, müssen als mafiös angesehen werden. Im Zentrum der Kritik stand hier die „Frente Bolivariano de Trabajadores“, die als Gewerkschaft der endogenen Rechten der PSUV charakterisiert wird und die Führung der nationalisierten Betriebe
der Schwerindustrie in Ciudad Guayana an sich reissen will. Die häufig anzutreffende administrative Anarchie lähmt die Produktivität. Konflikte entstehen, weil die von den zuständigen Ministerien neben den gewählten Arbeiterpräsidenten eingesetzten „Juntas Directivas“ (Vorstände) mit Technokraten besetzt sind, die die gleichen Kriterien wie Privatunternehmer anwenden. Geldmittel, die Präsident Chávez für die nationalisierten Betriebe freigegeben hat, stehen real oft nicht zur Verfügung, weil sie im bürokratischen Apparat verschwinden.

In den Beiträgen zum zweiten Punkt wurde betont: Es muss für die Abschaffung der sozialen Spaltung der Arbeit gekämpft werden. Es muss eine ständige, integrale Weiterbildung der Arbeiter auf ideologischem und politischen Gebiet organisiert werden, um ein kritisches Klassenbewusstsein und eine revolutionäre Verpflichtung zu entwickeln. Es gilt, eine Arbeitermiliz zum Schutz der Arbeiterklasse zu organisieren. In der Arbeiterklasse muss ein Gefühl der Zugehörigkeit mit der Prämisse „der
Betrieb gehört uns“ hergestellt werden. Der Ausschluss wegen ideologischer
Unterschiede muss vermieden und die Einbeziehung durch die Klassenzugehörigkeit angeregt werden. Menschliche Arbeitsbedingungen sind zu schaffen, die die geschäftsmäßigen Beziehungen überwinden. Die Prinzipien der Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit, gegenseitiger Ergänzung, horizontaler Strukturen, Zusammenarbeit, Bescheidenheit und Gruppenarbeit sind immer anzuwenden.

Das Thema der Vorschläge für das weitere Vorgehen eröffnete bezeichnenderweise ein Aufruf an Präsident Chávez: er soll für den Bundesstaat Bolivar den Notstand erklären wegen der teilweise schon gewaltsamen Zuspitzung der Konflikte um die Frage der Arbeiterkontrolle in den nationalisierten Unternehmen. Es soll ein öffentliches Manifest
ausgearbeitet werden, das auch direkt an den Präsidenten gerichtet ist und alle Übereinkünfte des ersten nationalen Treffens für die Arbeiterkontrolle enthält (dies ist inzwischen geschehen). Die Teilnehmer fordern ein neues Arbeitsgesetz und ein Gesetz über die Arbeiterräte. Sie fordern die Schaffung einer überbetrieblichen Kommission aus organisierten Arbeitern, organisierten Comunidades, Staat und Zulieferern von Rohstoffen, um den Bürokratismus und die Korruption zu bekämpfen. Sie wollen eine Kommission zur ständigen Überwachung des Funktionierens der sozialistischen Betriebe. In den Statuten der vergesellschafteten Unternehmen müssen die Installierung von Arbeiterräten, die fortschreitende Abschaffung der
sozialen Spaltung der Arbeit, die Abschaffung des Systems der Entfremdung, die Garantie der Bildung der Arbeiter und der Aufbau von Arbeitermilizen verbindlich verankert werden. Die Unternehmen müssen die Entwicklung der sozialen Umgebung der Fabriken garantieren und ihre Verpflichtungen gegenüber den staatlichen Sozialprogrammen erfüllen. In jedem Unternehmen unter Arbeiterkontrolle ist die Kunst und Kultur des Volkes zu fördern. Die Unterschiede der Löhne und Gehälter müssen stetig verringert werden. Weitere Enteignungen privater Unternehmen im Bereich sozialer Dienstleistungen werden gefordert.

Weiter wird vorgeschlagen, dass alle sozialistischen Betriebe eine Website einrichten, auf der die Betriebsleitungen regelmäßig alle produktiven, finanziellen, kommerziellen und steuerlichen Aktivitäten offenlegen, besonders die Kostenstrukturen; ebenso die Fakten bezüglich der Personalverwaltung, der sozialen Projekte und politischen Initiativen.


Die Konferenz zur Arbeiterkontrolle kritisiert, dass nicht einmal um Ciudad Guayana, dem Zentrum der venezolanischen Schwerindustrie, ein wissenschaftlich- technologisches Forschungs- und Entwicklungszentrum existiert. Sie fordert die Einrichtung eines solchen, um die Abhängigkeiten von ausländischen Technologien und Lizenzen abzubauen, und die Einbeziehung der Arbeiterräte in eine solche Institution.

Die Arbeiter selbst sollen ein multidisziplinäres Team bilden, um einen Planungsrat für die nationale Ökonomie zu schaffen, mit der Perspektive der Ausarbeitung eines nationalen Plans der sozialen Ökonomie. Ein weiteres multidisziplinäres Team soll einen Vorschlag für eine Arbeitermiliz ausarbeiten.

Die Teilnehmer der Konferenz beschliessen, ein massenhaftes System der Kommunikation und Verbreitung zu schaffen. Unter anderem soll eine zentrale
elektronische und gedruckte Zeitung aufgelegt werden. Wenige Wochen nach der
Konferenz laufen schon erste praktische Schritte dazu.

Schließlich machten die Teilnehmer der Konferenz sich die Regierungslinie zu eigen, den „Patriotischen Pol“ zu stärken. Aber, wie die Konferenz betont, nicht nur für die Wahlen 2012, sondern auch für die Organisierung und die Kaderbildung. Anders als dem Sinn der PSUV nach, nur das Wählerreservoir zu erweitern, bedeutet dieses Projekt aus Sicht der Arbeiterbewegung viel mehr die Ausschöpfung des Potentials im Volk, um der Idee der protagonistischen Demokratie immer wieder neue Kraft zuzuführen.

* venezolanischer Kommunist, Guerillero und Gewerkschafter bei Sidor – 1982
gestorben