Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989

Die unbekannte Seite der DDR-Revolution

Warnstreik der Berliner Müllabfuhr im Januar 1990, Q: Gehrke/Hürtgen 2001: 268.

 "Wer die Jahrzehnte währende politische Stabilität der DDR- Gesell- schaft ebenso vor Augen hat wie die Bilder der prägenden Gestalten der kirchlichen Friedens- bewegung in den 1980er Jahren, wer schließlich an die Menschen auf den Tribünen, Podien oder an den Runden Tischen in der Zeit des Umbruchs von 1989 und 1990 denkt, die stark von Künstler/innen und Pfarrer/innen geprägt wurden, fragt vielleicht, weshalb es lohnt, sich überhaupt mit den Betrieben und ihren Belegschaften in der DDR zu beschäftigen. Im Gegensatz etwa zu Polen, standen diese weder Jahrzehnte vor noch in der Zeit des demokratischen Aufbruchs 1989 selbst im Zentrum der offenen Konflikte. Wer allerdings auf die für alle zeitgenössischen Beobachter/innen überraschende Geschwindigkeit der Abläufe sowie das Ausmaß der Demokratiebewegung im Herbst 1989 blickt, wird sich damit beschäftigen müssen, wer die vielen Menschen waren und was sie bewegte, als sie im Herbst 1989 die Kirchen, die Straßen und die Plätze füllten, die aus den Aufrufen zur Demonstration seitens der bis dato kleinen Opposition erst wirkliche und wahrhaftige Massendemonstrationen machten.

Wer so fragt, fragt nach "der Straße", nicht nach den Tribünen, fragt nach jener "Straße", die den Sturz des alten, des SED-Regimes erzwang. Erst wer so fragt, fragt auch nach den tatsächlich bewegenden Kräften und nach der Dynamik des revolutionär-demokratischen Aufbruchs, der schließlich das Gros der Gesellschaft erfasste. Es ist damit auch die Frage nach den gesellschaftlichen Potenzialen einer demokratischen Revolution gestellt, die eine Einparteiendiktatur mit ihrem polizeistaatlich gestützten und geschützten Herrschaftsapparat stürzte und demokratische Freiheiten buchstäblich auf der Straße erkämpfte. Eben diese "Straße" war es, die gegen jedes Zögern, Zaudern und sich Wenden der Obrigkeit oder von Teilen der Opposition immer wieder die Entwicklung vorwärts trieb und eine diktatorische Obrigkeit absetzte. Sie setzte eine Obrigkeit ab, die zwar, ohne zu schießen, abtrat, aber nicht freiwillig, sondern weil sie von „der Straße“ dazu gezwungen wurde, die alle ihre Manöver durchkreuzte, mit denen sie an der Macht zu bleiben hoffte. Weil es die „Straße“ war, die eine Einparteiendiktatur und ihren Polizeistaat überwandt und demokratische Rechte erkämpfte, sprechen wir auch von einer Revolution, einer demokratischen Revolution. 

Nachdem wir die „Straße“ als Ort des Massenprotestes im Herbst 1989 ausgemacht haben, ist es nur folgerichtig, sich den Betriebsbelegschaften zu zu wenden, denn der Betrieb war der entscheidende ökonomisch-soziale Lebensbereich jener Menschen, deren massenhaftes Auftreten den Auf- und Umbruch 1989 herbeiführte. Aber mehr als das: Wie wir noch sehen werden, ist der Betrieb nicht nur für die Erklärung eines Erfahrungshintergrundes der Massenakteure auf den Straßen wichtig, er hat auch selbst als sozialer Raum des politischen Kampfes in den entscheidenden Tagen und Stunden des Sturzes des alten Regimes eine wichtige Rolle gespielt. Der Betrieb als relevanter Ort des Sturzes der SED-Diktatur wird vom Gros der DDR-Forschung bis heute weitgehend ignoriert, obgleich stets und ständig die besondere Rolle der Arbeit oder der Arbeitskollektive in der DDR betont wird. Trotz vieler Arbeiten über den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, über ostdeutsche Betriebe und Interessenvertretungen nach 1990 mit Bezügen zur Zeit des Umbruchs oder einer Reihe von Einzeldarstellungen zu Betrieben in der DDR 1989 und 1990, fehlt bis heute eine Gesamtdarstellung zur Problematik der demokratischen Aktivitäten in den Betrieben in dieser Zeit. Erst recht eine Darstellung aus der Perspektive „von unten“. [...] "


Dieser Artikel "Die demokratische Revolution in der DDR und die Betriebsbelegschaften" von Bernd Gehrke & Renate Hürtgen wurde zuerst veröffentlicht in dem Sammelband "Das Begehren anders zu sein. Politische und kulturelle Dissidenz von 68 bis zum Scheitern der DDR" (2012, hrsg. von Anne Seeck) und kann weiter unten im Volltext gelesen werden.

Zudem stellten uns die AutorInnen zwei weitere Artikel aus dem im Jahr 2001 von ihnen herausgebenen Sammelband "Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989"  zur Verfügung:

Bernd Gehrke: Die "Wende"-Streiks. Eine erste Skizze, in: Bernd Gehrke/Renate Hürtgen (Hrsg.), Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989: Die unbekannte Seite der DDR-Revolution. Diskussion – Dokumente – Analysen, Bildungswerk Berlin der Heinrich Böll Stiftung 2001, S. 247-270.

Bernd Gehrke: "Der FDGB tagt hinter verschlossenen Türen - Wir reden und handeln offen!" Eine Lesehilfe für die Dokumente der innerbetrieblichen "Wende", in: Gehrke/Hürtgen 2001: 288-230.

In diesem Sammelband wurde auch eine eine Vielzahl von Originaldokumenten, Analysen und Selbstschilderungen damaliger Akteure der "Betriebswende" veröffentlicht, von denen hier eine Auswahl einzusehen ist. Wir danken Bernd Gehrke und Renate Hürtgen für die Genehmigung zur Veröffentlichung auf workerscontrol.net!