Einblicke in den Rätediskurs: Zu den programmatischen Ansätzen der 68er-Bewegung

Rudi Dutschke

„Ihr müßt diese Typen sehen. Ihr müßt ihnen genau ins Gesicht sehen. Dann wißt ihr, denen geht es nur darum, unsere freiheitliche Grundordnung zu zerstören!"
(vgl. u. a. DER SPIEGEL 1968a: 24; Ditfurth 2008: 18)



I. Rätediskurs innerhalb der 68er-Bewegung: Ein Überblick

Am 1. Dezember 1966 konstituierte sich die „Große Koalition“ unter Führung Kurt Georg Kiesingers. Die parlamentarische Opposition schien, bei einem Verhältnis von 447 (SPD- und CDU/CSU-Fraktion) zu 49 (FDP-Fraktion) stimmberechtigten Abgeordneten2, außer Kraft gesetzt bzw. nicht mehr im Stande als regulierende Instanz eingreifen zu können. Die Bildung einer so genannten „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO), deren Wortschöpfung fälschlicherweise Rudi Dutschke zugeschrieben wurde (vgl. hierzu Vogel 2005: 150 ff.), schien diesbezüglich die logische Konsequenz eines verstärkten Bedürfnisses linksliberaler Gesellschaftsschichten, nicht nur aus dem studentischen Milieu, nach politischer Einflussnahme zu sein. Theoretischer Ausdruck dieser zunehmenden Skepsis gegenüber den parlamentarischen Entscheidungsmechanismen war u. a. Johannes Agnolis 1967 veröffentlichte Abhandlung „Die Transformation der Demokratie“ (Agnoli 1967, zit. 2004), welche von Barbara Görres Agnoli, der Witwe des verstorbenen Politikwissenschaftlers, 2004 gar als „Bibel der Außerparlamentarischen Opposition“ (Görres Agnoli 2004: 7) bezeichnet wurde.

Für Agnoli wie für weite Teile der so genannten 68er-Bewegung war der (bundesdeutsche) Parlamentarismus lediglich Mittel und Zweck den Klassenkonflikt auf die Staatsebene1 zu übertragen, um dadurch die gesellschaftspolitische Macht- bzw. Herrschaftsposition der Bourgeoisie nachhaltig sichern zu können (vgl. Agnoli 1967, zit. 2004: 32). In diesem System der „(schein)konkurrierenden Parteien“ (ebd.: 46), der beliebig auswechselbaren Führungspersönlichkeiten – Rudi Dutschke sprach in diesem Zusammenhang (in Anlehnung an Karl Marx) von austauschbaren „bürokratischen Charaktermasken“ (Dutschke 1967a: 32) –, der „staatlich betriebenen Befriedung“ (Agnoli 1967, zit. 2004: 68) und der gezielten Manipulation des demos, könne der Bundestag lediglich als Fiktion einer legislativen Volksvertretung bzw. lediglich als Instrument zur Ausübung der spätkapitalistischen Klassenherrschaft betrachtet werden (vgl. u. a. Jaeggi 1973: 160 ff.; Agnoli 1967, zit. 2004: 61 ff.; Neusüß 1968a, zit. 1976: 314 ff. sowie Lenk 1972: 48 ff.).
„Die Macht des Parlaments“, so Agnoli, „[sei daher] nicht die Macht des Volkes“ (ebd.: 73), sondern vielmehr Machtapparat der „wirtschaftlichen, kulturellen und sonstigen Oligarchien“ (ebd.: 52), d. h. der „Großbourgeoisie“ (ebd.: 62)2. Rudi Dutschke formulierte diesbezüglich bereits 1967 in einem Fernsehinterview mit Günter Gaus: „Ich halte das bestehende parlamentarische System für unbrauchbar. Das heißt, wir haben in unseren Parlamenten keine Repräsentanten, die die Interessen unserer Bevölkerung – die wirklichen Interessen unserer Bevölkerung – ausdrücken. Sie können jetzt fragen: Welche wirklichen Interessen? Aber da sind Ansprüche da. Wiedervereinigungsansprüche, Sicherung der Arbeitsplätze, Sicherung der Staatsfinanzen, in Ordnung zu bringende Ökonomie, all das sind Ansprüche, die muß aber das Parlament verwirklichen, wenn es einen kritischen Dialog herstellt mit der Bevölkerung. Nun gibt es aber eine totale Trennung zwischen Repräsentanten im Parlament und dem in Unmündigkeit gehaltenen Volk.“ (Dutschke 1967b, zit. 1980: 43)  

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