Alle Macht den Sowjets?

Der Kronstädter Aufstand als Schlusspunkt der russischen Revolution

Alle Macht den Sowjets?

Vor 90 Jahren, im Frühjahr 1921, erhoben sich die Matrosen des Marinestützpunkts Kronstadt gegen die Regierung der russischen Kommunisten. Sie, die einstige Speerspitze der Revolution, taten das nicht, um den Sozialismus zu bekämpfen. Ganz im Gegenteil: Sie wollten ihn vor der drohenden Erstickung durch die autoritären Männer um Lenin retten. Ihr Mittel dazu waren basisdemokratisch gewählte Räte, die der Allmacht der kommunistischen Partei entgegengesetzt werden sollten.

Der historische Kontext
„Die Freiheit, die wir durch die Revolution erhalten hatten, wurde uns vom neuen Regime wieder weggenommen. Das Leben auf dem Dorf ist jetzt nicht anders als unter dem Zaren.“[1] So charakterisierte ein Bauer zu Beginn der 1920er Jahre die Lage eines Großteils der Bevölkerung in Russland. Vorausgegangen war eine fast zehn Jahre dauernde Krise von unvorstellbarem Ausmaß: Der bis dahin blutigste Krieg der Geschichte, der Erste Weltkrieg, und zwei Revolutionen hatten die alte Ordnung zerstört, ein jahrelanger Bürgerkrieg ging gerade zu Ende – und eine große Hungersnot kündigte sich an.

Der Kriegskommunismus der Bolschewiki, d.h. vor allem die Beschlagnahmung der Ernten und des Viehs der Bauern, führte zu einer wachsenden Unzufriedenheit auf dem Land. Die exzessive Gewalt der staatlichen Organe bis hin zu Exekutionen von widerspenstigen Bauern verschärfte die Situation noch weiter. Neben Sibirien, dem Wolgabecken und Nordkaukasus eskalierte die Auseinandersetzung besonders in der Region Tambow zu einem regelrechten Guerillakrieg der Landbevölkerung gegen die Rote Armee und Tschekaeinheiten.[2] Parallel dazu wurde die Versorgungslage in den Städten immer schwieriger. Auch hier waren ernste Unruhen absehbar, besonders in den industriellen Zentren Moskau und St. Petersburg. Die Vorgehensweise der Bolschewiki einfach als sinnlosen Terror zu bezeichnen, verstellt jedoch den Blick auf die realen Ursachen der Krise. Damit soll dieses Handeln nicht legitimiert werden – es wird noch zu zeigen sein, welche alternativen Lösungen möglich waren – aber moralisierende Wertungen reichen kaum aus, um die Situation wirklich zu verstehen. Aufgrund ihrer ökonomischen Mittlerrolle zwischen den Interessen der Bauern und den Bedürfnissen der Stadtbevölkerung befanden sich die Bolschewiki in einer objektiven Problemlage: Den einen mussten sie zu viel nehmen, den anderen konnten sie nicht genug geben. Ihre anfängliche „Lösung“, Druck und Gewalt in beide Richtungen, ließ sich allerdings nicht dauerhaft anwenden, ohne ihre eigene Macht in Frage zu stellen.[3] Parallel zu den Ereignissen in Kronstadt 1921 propagierte Lenin daher die „Neue ökonomische Politik“ mit mehr Handelsfreiheiten für die Bauern und Kleinhändler – offensichtlich, um damit die Lage auf dem Land zu entschärfen.[4] Die gefürchteten Requisitionen wurden ersetzt durch eine realistischer bemessene Naturalsteuer. Anstatt den Menschen mehr Autonomie im Rahmen des bereits bestehenden, aber weitgehend entmachteten Rätesystems zuzubilligen, ging man also den Weg der teilweisen Wiederherstelllung kapitalistischer Marktmechanismen.

Die schwere Zerrüttung der russischen Wirtschaft hatte mehrere Gründe. Zahlreiche Arbeitskräfte aus der Industrie und Landwirtschaft waren als Soldaten eingezogen worden, und viele von ihnen kamen nicht zurück. Acht Jahre Krieg hatten verheerende Wirkungen auf die Infrastruktur, auf Fabriken und andere Betriebe gehabt.[5] Einige wichtige Teile des Reiches waren unabhängige Nationen geworden, etwa Polen und Finnland; generell war der Handel mit dem Ausland weitgehend zum Erliegen gekommen. Ebenso fehlten jetzt westliche Kapitalzuflüsse, die vor dem Krieg ganz erheblich zur beginnenden russischen Industrialisierung beigetragen hatten. Die wenigen Fabriken hatten zu einem großen Teil ihre Produktion dem militärischen Bedarf angepasst; ihre Umstellung auf zivile Güter verursachte wie in anderen kriegführenden Ländern auch zahlreiche Schwierigkeiten. Und ganz allgemein gab es im Land eine weitverbreitete Kriminalität und Unsicherheit – in diesem Sinn hatten die Bolschewiki einen sehr schwachen Staat errichtet. Das ist ein Punkt, der oft übersehen wird: In ihrer Anfangszeit war die Macht der Kommunisten sehr begrenzt, insbesondere in den peripheren Gebieten des Landes.

Neben der wirtschaftlichen Not schürten auch noch andere Entwicklungen die Unzufriedenheit der Massen in Stadt und Land. Denn obwohl eine der Hauptforderungen der Bolschewiki 1917 „Alle Macht den Sowjets“ gewesen war, hatten sie den Einfluß der Räte nach ihrer Regierungsübernahme weitgehend beseitigt. Das bedeutete einerseits den Verlust einer demokratischen Legitimation, andererseits belegt das eine zunehmende Entfremdung der kommunistischen Kader vom Volk. Die faktische Ausschaltung der Räte (formell bestanden sie bis zum Ende der Sowjetunion 1991) verlief parallel zu einem allgemeinen politischen Umbau hin zu einer extrem zentralisierten und entsprechend autoritären Ordnung. Zahlreiche Kommissionen und und außerordentliche Organe wurden geschaffen, die, wie Hildermeier schreibt, „nur nach oben verantwortlich waren, soweit sie überhaupt praktischer Kontrolle unterlagen.“[6] Die Tscheka, gegründet als parteieigene Organisation zur Bekämpfung der Konterrevolution, weitete sich zu einem umfangreichen Apparat aus, der gezielt gegen alle politischen Gegner der Bolschewiki vorging und dabei auch vor Morden nicht zurückschreckte.[7] Ein wichtiger Meilenstein der neuen autoritären Politik war die Durchsetzung des Fraktionsverbots in der bis dahin einzigen offenen politischen Plattform des Landes: der Partei der Bolschewiki. Lenin verlangte es mit dem Verweis auf notwendige Disziplin und Geschlossenheit[8]; zunächst richtete es sich gegen die sog. Arbeiteropposition, die damit zum Schweigen gebracht wurde.

Diese hatte eine weitgehende Demokratisierung des Wirtschaftslebens gefordert, indem gewählte Arbeitervertreter als Betriebsräte die Fabriken leiten sollten. Gleichzeitig wollte man den Gewerkschaften mehr Einfluß auf staatliche Belange einräumen. Dem entsprach auf dem Land der Wunsch zahlreicher Bauern, ihre Dörfer weitgehend autonom selbst zu verwalten. Die Institution der kollektiven Steuerschuld vor der Revolution (d.h. ein Dorf war verantwortlich für die Bezahlung der Steuern und teilte die Last entsprechend der Leistungsfähigkeit der einzelnen Familien selbstständig auf) hatte gezeigt, dass diese Organisationsformen durchaus sinnvoll und funktionsfähig sein konnten.

Eine solche Orientierung auf die Basis, verbunden mit einer Dezentralisierung von wichtigen Entscheidungsprozessen, musste aber auf den entschiedenen Widerstand der engeren Führungsgruppe um Lenin stoßen. Hier gab es offensichtlich schon keine Identität der Interessen von Volk und weiten Teilen der Bolschewiki mehr. Eine neu entstandene Elite von Parteifunktionären hatte sich Macht und Privilegien gesichert, die nun gegen die Begehrlichkeiten der Massen verteidigt werden „mussten“. Vielfach ist diese Entwicklung mit dem Aufstieg Stalins zum Generalsekretär der KPdSU in Verbindung gebracht worden. Das verdeckt aber auch ein Stück weit die Tatsache, dass diese Veränderungen schon früher eingesetzt haben.

Die Rolle Kronstadts im Jahr 1917
Bereits unter dem Zaren galten die Matrosen der Marinebasis Kronstadt, wenige Kilometer von der Hauptstadt St. Petersburg entfernt, als besonders politisiert. Sie hatten z.B. an der gescheiterten Revolution von 1905 teilgenommen, und auch 1910 fand hier eine Rebellion statt. Insgesamt lebten auf der Insel etwa 50.000 Menschen.

Als 1917 die Februarrevolution ausbrach, waren die Kronstädter aktiv beteiligt. Bemerkenswert ist ihre breite parteiliche Orientierung, wenn auch mit deutlich linker Tendenz und zunehmender Radikalisierung. Während der erste Sowjet noch von Sozialrevolutionären und Menschewiki dominiert war, bestand der zweite, nach Auseinandersetzungen mit der Provisorischen Regierung gewählte, vor allem aus Bolschewiki, Anarchisten und Maximalisten (einer linken Abspaltung der Sozialrevolutionäre).[9]

Die Aktivitäten der Kronstädter beschränkten sich aber nicht nur auf Wahlen oder große Versammlungen auf dem Ankerplatz (bei denen die wichtigsten Fragen verhandelt wurden). Schnell bildeten sich zahlreiche basisdemokratisch organisierte Komitees, etwa für Bildung, Wohnhäuserverwaltung oder Produktion. Sie hatten z.B. die Aufgabe, den vorhandenen Wohnraum gerechter zu verteilen und für notwendige Reparaturen zu sorgen. Andere kümmerten sich um die revolutionäre Agitation in Petersburger Fabriken oder auf dem Land. Viele der Matrosen wurden auch im Bürgerkrieg eingesetzt. Diese umfangreiche Aktivität der Kronstädter machte sie, in den Worten Trotzkis, zum „Stolz und Ruhm der Russischen Revolution.“[10] Nach der Oktoberrevolution wurde der Kronstädter Rat aber von den Kommunisten auf Linie gebracht, alle Mitglieder der anderen Parteien durch Bolschewiki ersetzt. Dennoch beteiligten sich die Matrosen im Bürgerkrieg an der Verteidigung Petersburgs gegen die weißen Truppen General Judenitschs. Neben den politischen Maßregelungen erregte sie auch der pompöse Lebensstil des Kommandanten der Baltischen Flotte, Raskolnikow, dessen Hauptquartier hier lag.[11]

Die „Dritte Revolution“
Die anfangs beschriebene Notlage hatte im Winter 1920/21 ihren Höhepunkt erreicht. Da viele der Matrosen und Soldaten Kronstadts ursprünglich Bauern gewesen waren und von ihnen im ganzen Land eingesetzt wurden, blieb ihnen diese Situation nicht verborgen. Gerade auch dank dieser soziologischen Zusammensetzung repräsentierte Kronstadt die gemeinsamen Interessen der Arbeiter und Bauern - im Gegensatz zu vielen anderen Protestbewegungen wie der erwähnten Bauernerhebungen in der Region Tambow oder die Streiks der Arbeiter, die entweder auf die Städte oder das Land begrenzt blieben.

Im Februar 1921 verbreitete sich rasch die Nachricht, dass spontane Streiks und Proteste von Petersburger Arbeitern auf erbitterte, zum Teil gewaltsame Gegenmaßnahmen der Bolschewiki stießen.[12] Einige Truppenkontingente der Armee gingen sogar zu den Demonstranten über oder weigerten sich, auf sie zu schießen. Die Parallelen zur Februarrevolution 1917, die genau vier Jahre vorher zum Sturz des Zaren geführt hatte, waren geradezu frappierend.

Die bisherige, eher verhaltene Oppositionshaltung der Kronstädter schlug um in offenen Protest. Am 1. März verabschiedete eine große öffentliche Versammlung eine Resolution, die sich entschieden gegen die bolschewistische Politik der letzten Jahre aussprach, gerade weil sie die Versprechungen vom Oktober 1917 nicht eingelöst hatte. Die Forderungen der Kronstädter beweisen das nur zu deutlich – und widerlegen damit die gegen sie gerichteten Vorwürfe von „offizieller“ Seite, sie wären Agenten des Westens oder stünden unter weißgardistischem Kommando. Interessanterweise hatte sich sogar die Mehrzahl der Bolschewisten vor Ort der Rebellion angeschlossen. Tatsächlich war es dann ein ehemaliger zaristischer Offizier, der spätere Marschall Tuchatschewski, der die Niederschlagung des Aufstandes leitete.[13]

Im einzelnen verlangten sie u.a. unverzügliche freie und geheime Wahlen zu den Sowjets, Meinungs- und Organisationsfreiheit.[14] Die eigens für die Kronstädter herausgegebene Zeitung „Iswestija“ – nicht zu verwechseln mit der Zeitung gleichen Names, die der St. Petersburger Sowjet herausgab und die als Sprachrohr der bolschewistischen Regierung diente - schrieb dazu: „Unsere Sache ist gerecht; wir sind für die Macht der Sowjets und nicht der Parteien, für eine freigewählte Vertretung der Werktätigen. Die einseitig zusammengesetzten, von der Kommunistischen Partei beherrschten Sowjets waren allen unseren Forderungen und Nöten gegenüber taub; die einzige Antwort, die wir erhielten, waren Kugeln.“[15] Bemerkenswert sind die ökonomischen Forderungen: freie Gewerkschaften und gleiche Lebensmittelrationen für alle Werktätigen; außerdem sollten die Bauern über ihr Land selbst verfügen und Handwerker selbstständig arbeiten dürfen – vorausgesetzt, sie würden keine fremden Arbeitskräfte ausbeuten.

Durchaus fragwürdig muten dagegen einige andere Formulierungen an, etwa die, „alle politischen Gefangenen, die sozialistischen Parteien angehören, freizulassen.“ Die Befreiung aller anderen sollte aber wenigstens von einer gewählten Kommission überprüft werden. Hier und an einigen anderen Vorkommnissen, etwa der Erschießung von 200 zaristischen Offizieren unmittelbar nach der Oktoberrevolution, zeigt sich die dunkle Kehrseite Kronstadts. Ganz offenbar war man nicht bereit, andere politische Kräfte, seien sie bürgerlich oder monarchistisch orientiert, zumindest als Opposition zu akzeptieren. Das Argument, es handle sich doch um eine revolutionäre Situation des zugespitzten Klassenkampfs, mag eine Erklärung bieten, eine Entschuldigung ist es dennoch nicht: Wie sollte eine wirklich freie Gesellschaft entstehen können auf einem Fundament von exzessiver, unkontrollierter Gewalt und Unterdrückung? Oder anders formuliert: Worin würde sich die von den Kronstädtern propagierte „Dritte Revolution“ dann noch von den vorhergehenden Revolutionen unterscheiden, die doch als gescheitert angesehen wurden?

Gerade wegen dieser Kritik überrascht doch ein Aspekt des Aufstandes ganz besonders: seine Ehrlichkeit. So wurde den Bolschewiki angeboten, Delegationen aus Petersburger Arbeitern zu empfangen, die sich dann selbst ein Bild der Lage machen könnten. Natürlich wurde das abgelehnt. Überhaupt erscheint der Glaube an friedliche Verhandlungen im Rückblick doch etwas naiv und realitätsfern. Durch Flugblätter, Radiosendungen und mündliche Berichte wusste man sehr gut, wie feindlich die Haltung der Bolschewiki von Anfang an war. Dennoch wurden viele ihrer Unterstellungen in der Iswestija wörtlich abgedruckt – offenbar hatte man keine Angst vor der Wahrheit.[16] Man hoffte auf die Überzeugungskraft der eigenen Argumente und, damit eng verbunden, auf die solidarische Unterstützung der Arbeiter und Bauern in ganz Russland. Das lag auch durchaus im Bereich des Möglichen, wie die zahlreichen anderen Erhebungen und Streiks in jenen Tagen belegen. Dennoch blieb Kronstadt zu isoliert. Entweder wusste das Volk nichts von dem Aufstand, oder es war auf die Berichterstattung der Bolschewiki angewiesen. Verschärft wurde die Situation durch die Insellage Kronstadts. Die feindlichen Truppen bildeten zunächst einen Belagerungsring entlang der Küsten des Festlandes, dann begannen sie mit der Bombardierung von den nahegelegenen Festungen aus. Die Aufständischen hatten es versäumt, gleich zu Beginn eine dieser Festungen handstreichartig zu erobern – damit wäre es möglich gewesen, Kuriere in die Petersburger Fabriken und aufs Land zu schicken. Doch man hielt (zu) eisern an dem Grundsatz fest: „Der erste Schritt ist getan. Kein einziger Schuss ist dabei gefallen, kein Tropfen Blut ist vergossen worden. Der Arbeiter braucht kein Blut zu vergießen, er wird allenfalls aus Notwehr schießen.“[17] Hier sehen wir eine Parallele zur Situation der Pariser Commune 1871. Auch sie versäumte einen sofortigen Angriff gegen die Regierung Thiers’ in Versailles, ließ sich isolieren und dann von einer überlegenen Armee zusammenschießen. Einer schnellen, überraschenden militärischen Aktion stand freilich im Weg, dass es gar keinen vorgefertigten Plan für den Aufstand gab; alles geschah als spontane Aktion der Arbeiter und Soldaten. Das beweist schon der Zeitpunkt des Beginns. Nur wenige Wochen später wäre das Meer eisfrei gewesen und damit Kronstadt praktisch uneinnehmbar. Außerdem hätte man dann über die Baltische Flotte mit ihren mächtigen Kriegsschiffen verfügen können.

Es liegt eine gewisse Tragik in dem Umstand, dass gerade einige der Prinzipien, für die Kronstadt eintrat – keine zentralistisch-autoritären Strukturen, spontane Massenaktionen, friedliche Konfliktlösung – für ihre Niederlage mitverantwortlich waren.

Derselbe Trotzki, der Kronstadt 1917 als „Stolz und Ruhm der Russischen Revolution“ bezeichnet hatte, drohte nun den Aufständischen: „Wie Rebhühner werden wir euch abknallen.“[18] Und das tat er auch. Der Anarchist Alexander Berkman, Augenzeuge des Geschehens, hat eine anschauliche Darstellung davon gegeben, wie der entsprechende Beschluss des Petersburger Sowjets fiel. Begründet wurde er mit dem angeblichen konterrevolutionären Charakter des Aufstandes; doch dafür konnten keinerlei Beweise vorgebracht werden.[19] Ein erster Angriff über das Eis wurde noch zurückgeschlagen. Der nächste, gut zwei Wochen nach Beginn der Erhebung, war dann erfolgreich: Tausende der Überlebenden wurden inhaftiert, viele von ihnen wurden ohne Gerichtsverfahren erschossen; nur wenigen gelang die Flucht nach Finnland. Am 18. März stand die ganze Insel dann unter der Kontrolle der Bolschewiki. Damit schloss sich der Kreis: Hier in Kronstadt und Petersburg, wo die Revolution begonnen hatte, ging sie auch zu Ende.

Die Bewertung der Ereignisse
Vielfach wurde und wird die Behauptung aufgestellt, der autoritäre Bolschewismus sei die einzig mögliche Form des Sozialismus in Russland, ja vielleicht sogar überhaupt gewesen. Dem kann man mit Rudi Dutschke entgegnen, dass „marxistisches Determinismusverständnis dialektisch und nicht mechanisch ist. Das heißt: in jeder geschichtlichen Lage ist ein Rahmen von objektiven Möglichkeiten gegeben und damit ein Spielraum für unterschiedliche Entscheidungen.“[20]

Der wohl beste Beweis für die Realität dieses Spielraums war Kronstadt. Es handelte sich dabei nicht um einen Ausbruch der Unzufriedenheit, der mit wenigen Zugeständnissen etwa materieller Art hätte besänftigt werden können. Vielmehr war es der Versuch, einen wirklich humanen, freien Sozialismus zu verwirklichen: „Hier in Kronstadt wurde der Grundstein zur Dritten Revolution gelegt, die die letzten Ketten des Arbeiters zerbrechen und ihm den neuen und breiten Weg des sozialistischen Aufbaus eröffnen wird. Diese neue Revolution wird die arbeitenden Massen in Ost und West aufrütteln. Sie wird das Beispiel eines neuen sozialistischen Aufbaus im Gegensatz zum mechanischen und regierungsmäßigen bolschewistischen „Aufbau“ geben. [...] Die Arbeiter und Bauern gehen unaufhaltsam voran. Sie lassen hinter sich die Konstituante mit ihrem bürgerlichen Regime und die kommunistische Parteidiktatur mit ihrer Tscheka und ihrem Staatskapitalismus, der die Schlinge um den Hals der Arbeiter warf und sie zu erwürgen drohte. Die nunmehr vollzogene Änderung gibt den arbeitenden Massen endlich die Möglichkeit, frei gewählte Räte zu verwirklichen, die ohne gewaltsamen Druck einer Partei funktionieren.“[21]

Die Niederschlagung dieses letzten ernsthaften Versuchs, den Räten eine bestimmende Rolle in Russland zu geben, kann in ihrer historischen Tragweite kaum überschätzt werden. Wie hätte sich Russland entwickelt, wären die Ziele der Kronstädter tatsächlich umgesetzt worden? Es gehört nicht unbedingt zu den Aufgaben des Historikers, diese kontrafaktische Frage zu stellen. Sie kann, auch mit dem Blick auf die Relevanz dieser Ereignisse für aktuelle Debatten, nur politisch beantwortet werden.

[1] Figes 1998, S. 794.

[2] Hinter der Bezeichnung „Tscheka“ verbirgt sich die Geheimpolizei, siehe Fussnote 7. An der Bekämpfung der Rebellen war u.a. auch Georgi Schukow beteiligt, der im Zweiten Weltkrieg als Eroberer von Berlin und als russischer Unterzeichner der deutschen Kapitulation bekannt wurde. Zu den Kämpfen 1920/21 siehe seine Memoiren: Schukow 1969, S. 69f.

[3] Neben dieser von Gewalt gekennzeichneten Praxis blühte der Schwarzhandel: Die sogenannten „Sackmänner“ tauschten Industriewaren und Wertgegenstände aus den Städten gegen Lebensmittel vom Land. Der Umfang dieses formal illegalen Vorgehens kann nur geschätzt werden und belief sich etwa auf 60-70 Prozent der Nahrungsmittel. Hildermeier 1989, S. 284.

[4] Lenin, Wladimir Iljitsch: Werke, Bd. 32, Berlin 1972, S. 186.

[5] Mawdsley 1987, S. 287f. beziffert die Gesamtzahl der Toten im Bürgerkrieg auf neun bis zehn Millionen; die Industrieproduktion belief sich Anfang 1921 nur noch auf 12-16 Prozent des Standes von 1912.

[6] Hildermeier 1989, S. 285.

[7] 1921 beschäftigte sie weit über 100.000 Mitarbeiter; die Zahl der Opfer ist bis heute unklar, dürfte aber zwischen 50.000 und 300.000 liegen. Zur Tscheka allgemein vgl. Leggett 1986.

[8] Lenin 1972, S. 185.

[9] Volin 1999, S. 12f.

[10] Volin 1999, S. 10.

[11] Figes 1998, S. 803.

[12] Auch sie forderten u.a. freie Wahlen zu den Räten. Vgl Figes 1998, S. 802.

[13] Insgesamt setzten die Boschewiki beim Aufbau der Roten Armee ganz massiv auf den militärischen Sachverstand ehemaliger Angehöriger der Armee des Zaren. Etwa 48.000 Offiziere und 215.000 Unteroffiziere der alten traten im Bürgerkrieg in die neue Truppe ein. Siehe Hildermeier 1989, S. 275.

[14] Die vollständige Resolution ist abgedruckt in der ersten Ausgabe der Iswestija, 3.3.1921.

[15] Iswestija, 6.3.1921.

[16] Siehe Iswestija, Ausgaben vom 3., 6. und 7. März 1921.

[17] Iswestija, 7.3.1921.

[18] Volin 1999, S. 112.

[19] Berkman 1923, S. 22f.

[20] Dutschke 1974, S. 332.

[21] Iswestija, 8.3.1921.

Literatur

Berkman, Alexander: Die Kronstadt Rebellion. Berlin 1923.

Dutschke, Rudi: Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. Berlin 1974.

Figes, Orlando: Die Tragödie eines Volkes. Berlin 1998.

Hildermeier, Manfred: Die Russische Revolution 1905-1921. Frankfurt/M. 1989.

Leggett, George: The Cheka. Lenin´s Political Police. Oxford 1986.

Lenin, Wladimir Iljitsch: Werke, Bd. 32, Berlin 1972.

Mawdsley, Evan: The Russian Civil War. London 1987.

Schukow, Georgi: Erinnerungen und Gedanken. Stuttgart 1969.

Volin: Der Aufstand von Kronstadt. Münster 1999.