Holger Marcks und Matthias Seiffert (Hg): Die großen Streiks - Episoden aus dem Klassenkampf

Rezension von Ralf Hoffrogge

Holger Marcks und Matthias Seiffert (Hg): Die großen Streiks - Episoden aus dem Klassenkampf

Der Streik ist das erste und ursprüngliche Kampfmittel einer jeden Arbeiterbewegung: ganz gleich wo und unter welchen Umständen Arbeiter und Arbeiterinnen aufbegehrt haben, die organsierte Arbeitsverweigerung war und ist ihr größtes Druckmittel. Dennoch ist in Überblickswerken zur Geschichte der Arbeiterbewegung eher selten von Streiks die Rede, meist geht es um Organisations- und Parteiengeschichte, im Focus stehen die  Repräsentanten der Arbeiterklasse, nicht jedoch die Klasse selbst.

Um so spannender ist der Versuch der Herausgeber Matthias Seiffert und Holger Marcks, den Streik als Klassenbewegung in den Mittelpunkt zu rücken. Elf große Streikbewegungen aus Europa, Afrika, Nord- und Südamerika werden durch jeweils drei Kurzaufsätze dargestellt und mit  kommentierten Bibliographien und Chronologien ergänzt.

Das Spektrum reicht vom Einwandererstreik im US-amerikanischen McKees Rocks im Jahr 1909 bis hin zu den französischen Streiks im öffentlichen Dienst des Jahres 1995. Lohnbkämpfe, politische Abwehrstreiks, antifaschistischer Widerstand bis hin zum Revolutionären Generalstreik - die verschiedensten Streikbewegungen eines ganzen Jahrhunderts sind in dieser Aufstellung vertreten. Sie zeigen die gleichzeitige Universalität und Pluralität von Streiks und deren zentrale Bedeutung im Kampf für emanzipatorische Ziele. Vielfalt und Faktenreichtum sind die Hauptstärken dieser Darstellung, die Aufsätze geben Einblicke, regen zu Vergleichen und Assoziationen an und machen immer wieder deutlich, dass neben dem Blick auf die Basis auch die internationalistische Perspektive in der Geschichte der Arbeiterbewegung oft zu kurz kommt.

Dennoch kann und will der Sammelband keine "Weltgeschichte des Streiks" sein, keine umfassende Darstellung von Arbeiterbewegung und Globalisierung, wie sie etwa Beverly Silver in ihrem vieldiskutieren Werk "Forces of Labor"  versucht hat. Das Buch von Marcks und Seiffert liefert stattdessen "Episoden aus dem Klassenkampf": Überblicksdarstellungen einzelner Streiks und ihrer Akteure, die zum Weiterlesen einladen. Manch einem mag das zu kurz und unbefriedigend erscheinen, auch fehlen wichtige Streiks, wie etwa die Massenstreiks gegen den ersten Weltkrieg in Deutschland. Jedoch hätten bei einer wirklich umfassenden und erschöpfenden Darstellung niemals derartig viele Ereignisse im Band Platz gefunden, im Grunde könnte über jede einzelne der  elf geschilderten Bewegungen ein ganzes Buch geschrieben werden. Der Mut zur pointierten Kürze macht daher den Reiz dieses Bandes aus. Gerade die  großen Sprünge über Zeiten und Kontinente sind es, die den Blick für die universalen Gemeinsamkeiten verschiedenster Streiks und Arbeitsverweigerungen schärfen.

Für die AutorInnen, die überwiegend aus dem anarchosyndikalistischen Spektrum stammen, ist die Selbstermächtigung der Arbeitenden eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten. Nicht selten war diese Selbstermächtigung auch aktive Kritik an der Politik der eigenen Organisationen: an vielen Beispielen stellen die AutorInnen die hemmenden oder gar bewegungsfeindlichen Tendenzen großer Gewerkschaften und Parteien dar. Sie lenken das Auge gezielt auf Tendenzen zur Kollaboration und Integration, welche Streikerfolge oft wieder zunichte machen oder im vornherein verhinderten. Dieser syndikalistischen Analyse werden sicher nicht alle Leser und Leserinnen zustimmen, insbesondere an Stellen wo  unnötig Gräben aufgebaut werden. Etwa, wenn an einer Stelle Marx und der Marxismus pauschal für das historische Versagen sozialdemokratischer und leninistischer Politik verantwortlich gemacht werden, ohne daß bei eben jenem Marx die unüberlesbaren Bezüge zu Herrschaftskritik, Selbstorganisation und "freier Assoziation" gewürdigt werden.

Diese eher untergeschobene Kritik bleibt jedoch die Ausnahme, in ihrer Mehrheit sind die  Positionen der AutorInnen gut begründet, oft genug drängen sie sich beim Blick auf die historischen Ereignisse geradezu auf. Auch deshalb ist dem Werk eine weitere Verbreitung zu wünschen, denn der kritische Blick auf die Distanz zwischen Repräsentanten und Repräsentierten kommt in der Historiographie der Arbeiterbewegung, insbesondere in Deutschland, deutlich zu kurz. Hier dominiert nach wie vor die Sicht auf große Männer, Funktionäre und Organisationen - eine Geschichte "von unten" könnte diese überkommene Sicht bereichern, wenn nicht gar erschüttern.

 

Die großen Streiks. Episoden aus dem Klassenkampf, Unrast-Verlag, Münster 2008
264 Seiten, broschiert, 14,80 Euro.