Wirtschaftsdemokratie und gesellschaftliche Aneignung

Demokratisierung durch gesellschaftliches Eigentum und partizipative Planung

Die 2008 begonnene weltweite Wirtschaftskrise offenbart die Unfähigkeit des finanzdominierten Kapitalismus, ein stabiles Wachstum zu generieren. Die seit Ende der 70er Jahre durchgesetzten neokonservativen und neoliberalen Gegenreformen dienten vor allem dazu, die Klassenherrschaft des Kapitals zu bekräftigen und den Lohnabhängigen eine umfassende Umverteilung des erarbeiteten Reichtums zugunsten der Kapital- und Vermögensbesitzer abzuringen. Seit einigen Jahren, und besonders seit der jüngsten Krise, haben neoliberale Konzepte stark an Glaubwürdigkeit verloren. Zudem haben die sozialliberal gefärbten Modernisierungs-versuche des Kapitalismus Schiffbruch erlitten. Aber auch antikapitalistische und sozialistische Entwürfe haben ihre Glaubwürdigkeit unter weiten Teilen der Lohn- abhängigen in den kapitalistischen Metropolenländern eingebüßt. Die Linke hat das Scheitern der staatlichen Kommandowirtschaften und den Zusammenbruch der mit diesen verbundenen bürokratischen Diktaturen vor zwanzig Jahren noch nicht wirklich verarbeitet. Diese Schwierigkeiten haben einen zögerlichen Suchprozess nach neuen Konzepten ausgelöst. Vermehrt wird wieder über Ideen und Konzepte der Demokratisierung der Wirtschaft diskutiert wird (u. a. Bontrup 2006a; Demirovic 2006; Schuler 2010).Exponenten von Gewerkschaften und der Partei DIE LINKE haben wiederholt verlangt, das Modell der Mitbestimmung auszudehnen und die Lohnabhängigen in unternehmerische Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Die Vorschläge für Wirtschaftsdemokratie orientieren sich zumeist an den Debatten der frühen 70er Jahre, die wiederum Konzepte aus der Weimarer Republik aufgegriffen haben (siehe den Beitrag von Stefan Müller in diesem Heft). Verfolgten die Autoren dieser Konzepte anfänglich noch eine reformistische Perspektive zur Überwindung des Kapitalismus, so gehen die jüngeren Beiträge kaum mehr über die Forderung nach einer bescheidenen demokratischen Einflussnahme auf die Wirtschaft hinaus. Revolutionärsozialistische und rätekommunistische Strömungen greifen auf die Erfahrungen der Pariser Kommune 1871, der Rätebewegungen in Russland 1905 und 1917, in Deutschland 1918 und Katalonien 1936 zurück. Das Konzept der Arbeiterkontrolle dient dabei als strategische Brücke. Weitreichende Kampfformen wie aktive Streiks und Betriebs-besetzungen sollen Erfahrungen und Lernprozesse ermöglichen, die in eine demokratische Kontrolle von Produktionsprozessen durch die Beschäftigten münden. So wichtig und wertvoll diese Erfahrungen und Konzepte sind, ist doch auch zu erkennen, dass sie außer in historischen Ausnahmesituationen keine konkrete Anwendung erfahren haben.
Der vorliegende Beitrag diskutiert Vorschläge für eine Demokratisierung der Wirtschaft und das Konzept der Arbeiterkontrolle in Bezug auf ihr Potenzial einer umfassenden gesellschaftlichen Aneignung der Produktion und Reproduktion. Dabei berücksichtigt
er weitere Konzepte und Modelle für eine demokratische Gestaltung der Wirtschaft, die als Antwort auf die neoliberalen Gegenreformen und die Krise der sozialistischen Perspektive in den letzten Jahren formuliert wurden. Die in Frankreich diskutierte
Perspektive der appropriation sociale, der gesellschaftlichen Aneignung, bietet Anknüpfungspunkte zur Formulierung einer Übergangsstrategie.
Jede antikapitalistische Perspektive steht zudem vor der Frage, welche Rolle die Allokationsmechanismen Markt und Plan einnehmen sollen. Jenseits der autoritären staatlichen Kommandowirtschaft und der Vorstellungen von Marktsozialismus bieten die Vorschläge für partizipative Planung nützliche Hinweise für eine sozialistisch-emanzipatorische Perspektive.
Das Ziel des Artikels besteht darin, Anknüpfungspunkte für eine Perspektive umfassender gesellschaftliche Aneignung auszuloten und damit einen Beitrag zur Diskussion über eine Neuformulierung eines emanzipatorischen und sozialistischen Projekts zu leisten. Meine Argumentation erfolgt in drei Schritten. Erstens können die Vorschläge zur Demokratisierung der Wirtschaft sowohl der Modernisierung des Kapitalismus dienen als auch nützliche Beiträge für eine Perspektive der antikapitalistischen und emanzipatorischen Transformation der Gesellschaft liefern. Entscheidend ist es, die Selbsttätigkeit der Lohnabhängigen zu fördern.
Die Diskussionen über und Erfahrungen mit Arbeiterkontrolle und Räten bieten hierzu unverzichtbare Impulse. Zweitens argumentiere ich im Gegensatz zu den Vorschlägen für Wirtschaftdemokratie und Marktsozialismus, dass sich Wirtschaftsdemokratie
und die Herrschaft des Kapitals mit ihrem Privateigentum an Produktionsmitteln gegenseitig ausschließen. Eine umfassende Demokratisierung der Produktion und Reproduktion stellt das private Eigentum an Produktionsmitteln perspektivisch in Frage.
Die Mobilität des Kapitals, also die im Zuge der internationalen  Expansion durchgesetzten transnationalen Wertschöpfungsketten, vertikale Desintegration und Offshoring und die Mobilität der Arbeit werfen drittens für eine Perspektive der demokratischen gesellschaftlichen Aneignung grundlegende Fragen auf. Eine zentrale
Herausforderung ist es zu klären, in welchen räumlichen Maßstäben ökonomische Prozesse entschieden werden. So stellt sich vielfach die Herausforderung, politische und ökonomische Entscheidungen auf europäischer Ebene zu fällen. Letztlich ist die
Struktur der weltweiten Arbeitsteilung selbst eine Frage der Demokratie.

 

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